Der Artikel erschien im April 2003 in der ila #264 –
Zeitschrift der Informationstelle Lateinamerika.
Text & Fotos: Beaware 2002/2003
Seit Anfang der Neunziger Jahre gehört HipHop in Lateinamerika zu den beliebtesten musikalischen Ausdrucksformen der Jugendlichen. Das gilt auch und sogar im Besonderen für Chile. Denn in Chile wird auf Grund der politischen Vergangenheit viel Wert auf freie Meinungsäußerung und kreative Protestformen gelegt. Besonders das Problem der Straflosigkeit ehemaliger Diktatur-Protagonisten, sorgt dafür, dass die Erfahrungen der Vergangenheit für die Gegenwart Thema und Motivation bleiben. Auch im und durch HipHop.
In Santiago gibt es inzwischen mindestens 500 Rapgruppen, und die Tendenz bleibt steigend.
Drinnen wird der Blick auf eine 8qm Farbenflut freigegeben. Ein deutsches Mädchen erklärt der Frau hinter dem Tresen, dass sie ihre eigene CD mitgebracht hat um sie gegen die CD einer chilenischen Rapperin zu tauschen. Die sympathische Verkäuferin verweist auf die CD mit dem gelben Schriftzug im Schaufenster und erklärt der deutschen Rapperin, dass dies eine Freundin von ihr sei, die auf dem hauseigenen Label ist und sowieso gleich vorbeikommt. Kurz darauf betritt eine große, kräftige Frau mit selbstbewusstem Blick, schwarzen schulterlangen Haaren und heller Haut die Tienda. Sie trägt Baggyshorts, Turnschuhe und ein T-shirt mit dem Aufdruck „Mantekilla Digital“ – ihre Kette trägt einen Anhänger in Mikrofonform, vor sich her schiebt sie energisch einen Kinderwagen. Sie wird der Deutschen als MC Nalini von den Corrosivas und Mantekilla Digital vorgestellt. Die Frauen spielen sich gegenseitig ihre CDs vor und sind vor Freude ganz außer sich ein weiteres Exemplar der seltenen Spezies ’Rapperin’ getroffen zu haben. Sie beschließen schnell bald zusammen ein Stück aufzunehmen.
Es war nicht immer so leicht andere Frauen zu treffen die rappen. Dass dies jetzt in Chile leichter ist, ist auch der Verdienst von MC Nalini. Sie hat mit ihren verschiedenen Projekten: den Corrosivas, Demos Sapiens und Mantekilla Digital, die HipHop-Szene Chiles nachhaltig mitgestaltet und verändert. Und das, trotz Machismo, der ja in der HipHop-Szene und generell in Chile sehr extrem ist.Dazu sagt MC Nalini: . “Wir als Frauen haben unsere eigenen Stimmen und Anliegen, und vor allem einen eigenen Diskurs. Es wurde uns sehr schwer gemacht mit dem rappen anzufangen. Von den Fünf mit denen wir 1991 als Corrosivas anfingen bin ich die Einzige die noch rappt.“ Sie war und ist eine der Wenigen, die anderen chilenischen Frauen vorlebt, dass dies nichts unmögliches ist.
„Es war mir immer wichtig, den männlichen Vorstellungen vom Leben und besonders von Rap, eine Gegenantwort zu präsentieren“, erklärt Nalini. Für sie kam es nie in Frage aufzuhören, den der Kampf gegen den männlichen Widerstand, war längst zu einem persönlichen Kampf auf der Suche nach Respekt und Freiräumen geworden. Freiräume der persönlichen Entwicklung, die den Frauen schon seit Jahrhunderten abgesprochen wurden. “Ich glaube, dass mein Diskurs mit der Zeit eine Rückkopplung an die Kraft und die Inhalte herstellen wird, für die schon andere Frauen in Chile gekämpft haben.“ So wie vorher ihre Schwester und ihre Mutter oder auch Gabriela Mistral, die chilenische Dichterin, die 1945 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Oder Gladis Marin, die Präsidentin der Kommunistischen Partei Chiles. Für sie symbolisieren all diese Frauen eine Antwort, da sie die Rolle der Frau in der Geschichte durch ihren Widerstand, ihre Gehorsamsverweigerung hinterfragten. Denn diese Frauen kämpften für das, was sie dachten und woran sie glaubten und für das Recht das zu tun, was sie aus eigener Berufung tun mussten – anstatt das zu tun was man von ihnen erwartete. „Darum ging es uns auch bei den Corrosivas, vor zehn Jahren war der Sexismus und die Widerstände auf die wir stießen noch viel extremer als heute und ich denke wir haben dazu beigetragen, dass sich die Situation für Frauen, wenn auch nur geringfügig, verbessert hat“, sagt Nalini.
Es ist 2 Uhr morgens und in „Las Rosas“ dröhnt aus einer Dachwohnung im 4.Stock lautes Lachen und Rapmusik. Ein Aufkleber an der Tür mit dem Schriftzug „Corrosivas“ ersetzt das Türschild. Drinnen befinden sich zwölf Rapper aus verschiedenen Rapgruppen Santiagos. Vom Computer kommen die Instrumentals, über die irgendwie alle aufeinmal rappen. Gerade läuft ein Instrumental von Mantekilla Digital, das eigentlich nur für drei MCs gedacht ist, aber da alle ihre Stücke gegenseitig, durch die vielen gemeinsamen Auftritte und Projekte, auswendig können, werden einfach alle Stücke zu zwölft gerappt. Von dem männlichen Stimmengewirr hebt sich Nalinis kräftige weibliche Stimme ab. Alle haben ein Dauerlächeln, leuchtende Augen und eine Art Glühen im Gesicht. Rappen scheint glücklich zu machen, erst recht zu zwölft.
Und das, obwohl die Texte und Beatz oft alles andere als positiv oder lustig sind. Mantekilla Digital das sind MC Nalini und ihr Freund Chico A. Ihre Musik beschreibt sie als apokalyptisch, sonderbar, psychedelisch und avantgardistisch. Die Beatz sind eine Mischung aus modernen Elementen und Samples alter, auch traditioneller chilenischer Musik und erinnert an melancholischen französischen HipHop. In ihren Texten versucht sie die dunkle menschliche Seite und seine Destruktivität zu beleuchten. Es geht auch viel um Ängste. „Ich beschäftige mich gern mit dem Zusammenspiel von Positivem und Negativem und wir versuchen in unseren Texten bewusst verschiedene Sichtweisen auf das menschliche Dasein zu entwerfen. Wir analysieren gerne und das ist oft verbunden mit viel Ironie“, sagt MC Nalini. Ihr Stil gehört zur neuen Schule des chilenischen Rap. Die ’nueva escuela‘ versuchte zu Anfang der 90er Jahre neue Stilwege, abseits des US-Amerikanischen Vorbildes zu gehen.
Zehn Jahre sind eine lange Zeit im Leben einer 27 jährigen und auch in der 20 Jahre jungen Geschichte einer musikalischen Bewegung in Südamerika. Die Entwicklung der HipHop Bewegung Chiles und der Corrosivas begleiteten verschiedene Hoch- und Tiefpunkte. Die Corrosivas waren damals auch Teil der Organisationsgruppe „Demos Sapiens“, einer der ersten HipHop Crews überhaupt in Santiago. Einige Graffitiwriter, B-Boys und Rapper schlossen sich zusammen, um die fehlenden Strukturen dieser Szene auf- und auszubauen. In der Crew waren auch viele Rückkehrer aus Europa dabei, die ihre Musikeinflüsse und Erfahrungen mit einbrachten. Dazu gehörten auch Mitglieder der bekanntesten und erfolgreichsten HipHop Gruppen Chiles: Tiro de Gracia, Tapiarabiajackson und Makiza. „Wir rappten auch gemeinsam, aber in erster Linie organisierten wir gemeinsam HipHop-Events und Konzerte in Santiago, denn zu dieser Zeit gab es hier wenig Angebot. Wir waren damit auch sehr erfolgreich und machten uns schnell einen Namen“, sagt Nalini. Als 1996 Tiro de Gracia mit ihrem Album „Ser Humano“ auf dem auch das Stück „Combo 10“ ist, bei dem auch MC Nalini und andere Demos Sapiens Mitglieder rappen, einen Majorvertrag bei der EMI bekamen und von MTV promoted wurden, zerfiel die bis dahin gemeinschaftliche HipHop-Szene Santiagos. Konkurrenz und Rivalität kamen auf, bei dem Kampf um eine neue Zielgruppe. Die Atmosphäre veränderte sich und Streit, Schlägereien und unkorrektes Verhalten wurden bei Veranstaltungen zum Regelfall.
Diese Veränderungen machten sich auch bei Demos Sapiens bemerkbar. MC Nalini und ihre Rapkollegin wurden immer häufiger mit Sexismus und Machismo konfrontiert. Das waren sie irgendwann leid und als noch andere Streitpunkte hinzukamen stiegen sie aus und konzentrierten sich ganz auf ihr eigenes Vorhaben. Insgesamt sieben Jahre lang spielten sie bei verschiedenen Jams und Konzerten in ganz Chile. Als die Corrosivas vor drei Jahren auf dem Höhepunkt ihrer musikalischen Aktivitäten angelangt waren und ihr Album endlich rauskommen sollte, verabschiedete sich Nalinis Partnerin von ihr und dem Rap und ging nach Frankreich. Nalinis Freund, Chico A, passierte ähnliches. Seine Gruppe, die Nativos, kamen zu einem klischeehaften und plötzlichen Ende als einem Mitglied in die Hand geschossen wurde und ein anderer ins Gefängnis musste. Die Lösung eines Problems kann oft sehr nahe liegen, wie im Fall von MC Nalini und Chico A. Sie rappten einfach zusammen weiter, was sie in der Vergangenheit auch schon gelegentlich getan hatten. Als Mantekilla Digital ging man weniger romantischen Duetten nach, sondern verfolgte unkonventionellere Stilmittel und Texte durch die, sinnentleerte Rapmusik wieder mit Inhalten gefüllt werden sollte.
Ihr Ziel war es, dass aus all den gemachten Erfahrungen etwas Konzeptionelleres und Experimentelleres entsteht. Etwas mit mehr Bewusstsein. Eine Essenz aus Nativos und Corrosivas. ist Mantekilla Digital. Und wie kommt man zu so einem Namen? Die Antwort ist nahe liegender als man vermuten könnte: Die Zeiten waren finanziell nie rosig für die beiden. Weil man sich über Wochen nur von Nudeln, Brot und Butter (Mantequilla) ernährte und den beiden meistens beim Aufmachen des Kühlschranks nur eine Packung Butter entgegenblickte, nannten sie sich Mantekilla Digital. Und beide hatten eine Affinität für Butter; Nalini fand Butter als Kind schon toll und schmierte sich damit möglichst flächendeckend ein. Digital, weil man sich gezwungenermaßen statt über Essen, dann rappenderweise über digitale Beatz hermachte. Heute gibt es zwar meist mehr im Kühlschrank, denn das Kind kann sich noch nicht von Beatz und Raps ernähren, aber das Bestreiten des Lebensunterhaltes ist jeden Tag von neuem ein ungewisses Abenteuer, wie für die meisten Chilenen.
Dies ist eigentlich auch der einzige Streitpunkt der die Beiden als Gruppe und Paar oft beschäftigt: Wo soll das Geld morgen herkommen, wofür soll es genutzt werden? „Wir haben einen Lebensweg mit wenig Sicherheit gewählt. Wenn man hier in Chile Musiker oder Künstler sein will finden die Leute das sehr seltsam, umso mehr wenn man versucht damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es ist nicht immer leicht sich gegen diese gesellschaftliche Stigmatisierung zu behaupten, und gerade nicht, wenn mal wieder gar kein Geld da ist.“ Aber irgendwie gibt es doch immer eine Lösung und gerade in Chile ist man in existenziellen Dingen sehr erfinderisch.
Heute kann Nalini etwas Cash bei ihren Freunden im HipHop-Laden verdienen. In dem winzigen Laden im Eurocentro sind mindestens 35 Grad und die Luft steht trotz Ventilator. Nalini erzählt einem Kollegen von ihrem Sampler-Projekt. Es soll ein Sampler nur Frauen am Mic sein. Ihr Bekannter versteht nicht, warum nicht auch Rapper dabei sein können. Sie erklärt ihm, dass die wenigen Frauen die hier rappen keinen Ort haben um sich zu treffen, auszutauschen oder Ideen zu teilen. Deshalb soll es zumindest eine Compilation geben, durch die das auch passieren wird. Der Rappero will wissen wer denn überhaupt dabei ist und ob es überhaupt genügend Frauen gäbe. Nalini zählt einige chilenische Rapperinen auf darunter Mistika von Mama Soul, dann soll auch noch eine Argentinierin und eine Deutsche dabei sein. Eine Deutsche? Nalini erklärt ihm, sie habe neulich eine deutsche Rapperin kennengelernt und mit ihr gleich ein Stück aufgenommen. Zum unterstreichen ihrer Worte holt Nalini die CD aus ihrer Tasche und legt sie in den Player : „Hier in Lateinamerika ist die Entwicklung sehr langsam, ich glaube mein Land ist gerade erst aufgewacht, es lag im Schlaf denn die Diktatur hat uns Schmerzen hinterlassen…Aber wir vermischen unsere Realitäten und Mentalitäten und werden weit damit kommen, denn HipHop kann uns vereinen wie Schwestern …“ Word up, big up, Ende.
www.kulturahiphop.com
Besagter HipHop-Laden mit dazugehörigem Label „Kalimba“, Label von Mantekilla Digital.
www.zonahiphop.cl
auch gut für HipHop aus Chile.