Streetart in Barcelona – Urbane Kommunikation International

‚Streetart‘ kann seine Wurzeln im Graffiti, aber auch in der europäischen Schablonen- und Parolen-Tradition der 60er Jahre haben. Oder in der Post- Popart der 80er Jahre. Auch die Wandmalereien Lateinamerikas haben wahrscheinlich ihren Einfluss hinterlassen, sowie Elemente aus der Werbebranche. ‚Streetart‘ ist eine Mischung aus vielen Stilrichtungen und für den Betrachter oft zugänglicher als Writing. Aber alles trifft sich unter dem Dach urbaner Kommunikation. Deutschland hat in Sachen Graffiti international auch noch die Nase vorn, aber oft mit dieser gewissen deutschen Ernsthaftig- und Geradlinigkeit. Sehr viel undogmatischer, verspielter und deshalb erfrischender präsentiert sich diese Kunst für alle auf den Straßen Barcelonas.

Das Wohnen am Plaza George Orwell im gotischen Viertel von Barcelona ist eine lautstarke Sache. Bekannter ist dieser Platz als „Plaza Trip“. Hier können zu fast jeder Tages- und Nachtzeit Drogen käuflich erworben werden. Deshalb ist auf dem Platz ein reges Treiben, das zunimmt, sobald die Hitze nachlässt. Nachts schläft man mit dem Soundteppich der konsumierenden Freaks ein und morgens wacht man durch die Straßenreinigung oder den Presslufthammer auf. Ein Härtetest; aber als Ausgleich gibt es Nahrung von der Straße. Kunst für Kopf und Seele: All you can eat!

Das Hilfswort ‚Streetart‘ impliziert bereits, worum es geht. Über Kunst kann man streiten, über Straße nicht. Die Straße ist von jeher auch die harte, aber gerechte Mutter der HipHop-Bewegung. Ursprungsort, Treffpunkt, manchmal auch Arbeitsplatz, aber immer Schauplatz. Und auch: Austragungsort für Konflikte. Durch die Straße bekam HipHop seine Inspiration und Stärke und gleichzeitig sind die Skillz des HipHop auch immer der Hoffnungsschimmer gewesen, einmal ein besseres Leben jenseits des Elends der Straße leben zu können. Trotz des Einzug von Graffiti und Streetart in Gallerien sind diese Ausdrucksformen dort verblieben, wo sie herkommen: auf der Straße. Hier lebt und gedeiht ein kreativer Kampf für mehr urbanes Stadtbewusstsein.

  

Die Mitte des Plaza Trip wird von einer dieser modernen abstrakten Skulpturen vereinnahmt, wie sie für Barcelona typisch sind. Denn in Barcelona liebt und schätzt man die Kunst. Nicht nur im Stil von Gaudi, sondern in all ihren verschiedenen Ausdrucksformen. Und das hat sich auch positiv auf Barcelonas Writerszene ausgewirkt. Lässt man den Blick um den Platz schweifen, so entdeckt der aufmerksame Betrachter kleine gesprühte Manifestationen von Straßenkunst an den Wänden. Eine Schablone von Dr. Hoffmann zeigt uns ein Portrait des Camaron und sagt uns: „Camaron vive“! Der Gott des Flamenco, Camaron, lebt. Eine weitere Schablone hinterließ ein Nike-Logo mit der Aufforderung: „just undo it“.

   

Einige Häuser weiter wird eine Wand von einer rennenden Personengruppe verziert, die vor schießenden Polizisten flieht: „Caution Police“, ergänzt ein Schriftzug. Das ist kein Zufall, obwohl es in der Natur der Dinge liegt, dass niemand aus der Graffiti- oder Streetartszene die Polizei mag. Mehrmals am Tag stattet die Polizei dem Plaza Trip einen Besuch ab. Irgendwie pervers bis zynisch ist die Tatsache, dass gerade auch am Plaza George Orwell, wie überall im Zentrum von Barcelona, Überwachungskameras die Arbeit der Polizei unterstützen. Trotz zunehmender staatlicher Repressionen sind die impertinenten Graffitiheadz anscheinend unbelehrbar in diesem Punkt. Sie sind Nachtschattengewächse. Kenner der Straßen und Nichtorte unserer Städte: der Autobahnbrücken, U-Bahntunnel, Dächer und Gleise. Graffiti ist von Haus aus das subversivste der vier klassischen Elemente im HipHop. Durch die Eigentumsfrage, die Aktion im öffentlichen Raum. Privateigentum ist eine Grundlage des Kapitalismus. Das Tag Ursprung von Writing. Überwachung teil diffuser Sicherheit.

      

      

Die neuen Kontrollmaßnahmen konnten die internationale Streetart-Guerilla von Barcelona nicht stoppen. Einen Block weiter am Plaza de la Veronica steht ein ehrfürchtiges antikes Gebäude, das aufgrund seiner Sanierung leersteht. Dort haben Nachtaktive aus aller Welt die Gestaltung der Fassade übernommen. Neben einigen besoffenen Punks haben auch nationale und internationale Größen ihre Spuren hinterlassen. So auch der englische Sprüher BANKSY, SPACE INVADERS und ABOVE aus Frankreich, sowie DR HOFFMANN oder auch POCH. Die Wächter des Eingangsportals wurden mit Markern und Schablonen umgestaltet: „Graffiti is not a crime“, so DR HOFFMANN. Rund um den kleinen Platz haben Aufkleber, Tags, Schablonen und Parolen ein Miteinander gefunden, dass einem fortwährenden Veränderungsprozess unterworfen ist. Sie sprechen zu uns. Auf ihre eigene subtile Weise.

Symbole, werden durch Schrift ergänzt oder Buchstaben durch Bilder. Eine Art duales System. Bilder von Waschmaschinen oder Bauarbeitern fusionieren mit dem Wort „Product“, die minimalistische Darstellung einer Überwachungskamera mit „stop control“ oder „1984“. Subversive Bebilderungen a la BANKSY, wie eine vermummte Ratte mit Seitenschneider, treffen auf eher unpolitische und mal mehr, mal weniger intelligente Lifestyle-Motti. Ein paar Schritte weiter beweist jemand speziellen Humor mit den Worten: „Zapata ha muerto – la vida sigue“ („Zapata ist gestorben – das Leben geht weiter“). Eine Stufe schwärzer geht es auch noch: „Express Yourself“! Anbei folgende Symbole: Rasierklinge, Pillen, Strick, Pistole. Daneben fordern Anarchisten: „Rage against Bush“. Ein Stück weiter links präsentiert ein Muskelprotz seinen Bizeps – darunter die Drohung in Worten: „no war“. Auf dem Balkon darüber weht das Transparent mit dem Logo und dem Motto, das mit Aufklebern, Wimpeln und Buttons vor einigen Monaten die Stadt erobert hat: „Aturem la guerra!“ („Stoppt den Krieg“). Man merkt, dass in Barcelona die größte europäische Antikriegsdemonstration stattgefunden hat.

Die kleinen Gassen lassen dem Streetart Liebhaber kaum die Gelegenheit, straight seinen Weg oder sein Ziel zu verfolgen; alle zehn Meter muss man stehen bleiben und staunen. Es gibt viel zu sehen: „Fuck Fashion“ spricht ein Schriftzug; Teil eines sechs Meter langen collageartigen Wandbildes. Aznar hat jetzt einen super Body und große Brüste, die ihm von zwei Boys durchmassiert werden. Es handelt sich nicht um ein Graffiti im klassischen Sinne. Es wird nicht nur mit der Sprühdose, sondern auch viel mit dem Pinsel und Schablonen gearbeitet. Außerdem sind selbstgemachte Plakate und Werbeposter mit eingearbeitet. Auch Bauschaum, Styropor oder Metallteile werden gerne zusätzlich verwendet. Häufig trifft der schweifende Passanten-Blick auf die riesigen Schnuller von EL XUPET, die schrulligen Katzengesichter von CHANOIR, die grinsenden Fischgesichter von PEZ. Dem Bilder- und Gassengewirr folgend, wird man früher oder später an der quasi Hauptstraße des gotischen Viertels, las Ramblas, ausgespuckt. Dort folgen die Touristen dem Reiseführerparcours und einige Spanier verfolgen die Kunst der Bewegungslosigkeit, um sich ein paar Euro zu verdienen.

         

Hinter den Markthallen vom gotischen Viertel ist eine Hall of Fame gewachsen. Ein paar Straßen weiter findet man das Museum für die Gegenwartskunst, welches seinen Namen ausnahmsweise verdient hat. Denn neben dem Museum ist eine Baustelle, deren achtzig Meter langer Zaun die wahre zeitgenössische Kunst wiedergibt: die Werke der Nachkommen von Taki 183 und Keith Harring. Für umsonst und draußen. Egal wie lange man bleibt, keiner wird behaupten können Barcelonas Freiluftgalerie auch nur annähernd vollständig gesehen zu haben. Die subtilen Botschaften wirken noch lange im Kopf und im Bauch nach. Deshalb: Fight the power with power und betet für Streetart!

Dieser Artikel sollte in Colortrip #2 erscheinen, aber die kam nie raus…

Text & Fotos: Beaware 2002

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