Urbane Markierungen als räumliche Interventionspraxis: Die Grupo Arte Callejero aus Buenos Aires

BIANCA LUDEWIG studierte Philosophie und Ethnologie an der Uni Hamburg, entschied sich aber für den Erwerb eines Gesellenbriefes. 2001 ging sie nach Bolivien, wo sie über Aymara-Radios und Fraueninitiativen forschte. Sie arbeitete als Musikjournalistin und DJ und studiert nun nach einem BA-Abschluß in Ethnologie an der Uni Hamburg Europäische Ethnologie im Master an der Humboldt Universität Berlin.


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Zitierbar: Bianca Ludewig (2010): Räumliche Interventionspraxis: Die Grupo Arte Callejero aus Buenos Aires, in: Fensterplatz – Zeitschrift für Kulturforschung 2, 2010, 30–47


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Der anthropologische Ort 1 ist fundamental für die ethnologische Arbeit: „Der Ethnologe bemüht sich seinerseits eine Ordnung durch die Organisation des Ortes zu entschlüsseln […], eine Ordnung, die umso verbindlicher und jedenfalls um so offenkundiger ist, als die Transkription in den Raum ihr den Anschein verleiht“, so Marc Auge. (1994, S. 53) Ihm zufolge hat sich Raum als ethnologische Kategorie verändert da sich unsere Welt als Lebensraum verändert hat. Die Transkription, von der Augé spricht, also das Einschreiben in den Raum durch den Stadtbewohner, ist der Schwerpunkt dieser Arbeit. Die gesellschaftliche Ordnung schreibt sich ebenfalls mit ihren Hierarchien in den Raum ein und auch darauf werde ich eingehen, um aufzuzeigen, dass der Stadtbewohner ihr nicht hilflos ausgeliefert ist. Er hat seinerseits Tricks und Kniffe entwickelt, die Michel de Certeau als Alltagspraktiken identifiziert: „Unterhalb der ideologisierendeh Diskurse wuchern Finten und Bündnisse von Mächten ohne erkennbare Identität, ohne greifbare Konturen und ohne rationale Transparenz, die nicht verwaltet werden können“. (De’Certeau 1992, S. 185) Augé glaubt, dass sich die Welt durch eine Überfülle der Ereignisse, eine Überfälle des Raumes und durch die Individualisierung der Referenzen verändert hat. Die damit einhergehenden Veränderungen sind gravierend für den anthropologischen Ort: „Die Welt der Übermoderne hat nicht dieselben Maße wie die Welt, in der wir zu leben glauben, denn wir leben in einer Welt, die zu erkunden wir noch nicht gelernt haben. Wir müssen neu lernen den Raum zu denken“. (Augé 1994, S. 46) Diese Arbeit verfolgt Augés These und unterstützt sie. Vor diesem Hintergrund scheint es sinnvoll, das Phänomen Urban Art mit seinen Überlegungen zu Orten und Nicht-Orten in Zusammenhang zu bringen.
Hier soll gezeigt werden, dass die weltweiten Veränderungen im urbanen Raum eng mit der Entwicklung und Verbreitung von Urban Art verbunden sind, weshalb Urban Art auch die Untersuchung solcher Wandlungsprozesse ermöglicht. Eine Stadt kann auf verschiedene Weisen wahrgenommen oder mental kartographiert werden, so auch durch Urban Art. Jean Baudrillard hatte als einer der ersten Wissenschaftler in seinem Werk Kool Killer – Der Aufstand der Zeichen Graffiti als ein

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räumliches Phänomen des Urbanen untersucht, weshalb Kool Killer in Graffiti-Kreisen zum Klassiker avancierte. So schreibt Baudrillard, dass Graffitis Zur Ordnung des Territoriums gehören: „Sie territorialisieren den decodierten urbanen Raum – diese oder jene Straße, jene Wand, jenes Viertel wird durch die [sic!] hindurch lebendig, wird wieder zum kollektiven Territorium.“ (Baudrillard 1974, S. 28)
Dieser Artikel bezieht sich auf Theorien von Amos Rapoport (1994), Pierre Bourdieu (1997), Marc Augé (1994) und Anhando Silva (1992, 2003). Silva hat Urban Art als besondere Erscheinungsform wahrgenommen, weshalb er versuchte, die urbanen Markierungen zu lesen und zu deuten. Für Silva ist die Stadt die Summe der kognitiven Städte seiner Bewohner. (Vgl. Silva 2003a; 2003b; 2003c) Augés Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit – so der Untertitel seines Buches Orte und Nicht-Orte – beziehen sich auf die Veränderungen der Orte und Parameter der Welt. Die Theorien arbeiten Perspektiven zu Raum als ethnologischer Kategorie heraus und zeigen Vergleichsmöglichkeiten auf, die auch auf Urban Art angewendet werden können. Augé und Bourdieu betonen vor allem die politischen und strukturellen Veränderungen in den Stadtregionen. Ich verdeutliche meine Überlegungen anhand des Beispiels der Grupo Arte Callejero (GAC) aus Buenos Aires, da die Zusammenhänge anhand der dortigen Wirtschaftskrise samt Regierungssturz besonders anschaulich werden. Meine These ist, dass Urban Art als Indikator sozialer und struktureller Wandlungsprozesse gefasst werden kann. Ich versuche zu zeigen, inwiefern Urban Art Hinweise zur Ermittlung solcher Veränderungsprozesse geben kann. Zuvor jedoch werde ich einen kurzen Einblick in Theorie und Erscheinungsformen der Urban Art geben.

URBAN ART – Definitionen und Begriffe

Mit dem Begriff Urban Art beziehe ich mich auf alle Erscheinungsformen, die visuell sind, Oberflächen gestalten und illegal im öffentlichen Raum stattfinden. Dies kann auch für legale Graffiti/Streetart gelten, hängt aber vom Einzelfall ab. Urban Art und urbane Markierungen werden hier als Synonym verwendet. Da Urban Art eine Bezeichnung ist,

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die in Bezug auf verschiedenste urbane Markierungen immer wieder sowohl außerhalb als auch innerhalb der Szene – benutzt wird, erscheint es mir sinnvoll, sie der Vereinfachung halber als Sammelbegfiff zu nutzen.

Es gibt verschiedene Arten von Urban Art: die existenziellen Graffiti, die verschiedenen Formen von New York Subway Graffiti: Tags, Throw Ups, Pieces. Deren Maler selbst nennen ihre Graffiti zur Abgrenzung von anderen Graffiti-Arten Writing. Hierbei handelt es sich um eine stilisierte Unterschrift in Form eines Pseudonyms oder einer Abkürzung. Eine weitere Form von Graffiti sind die Gang Graffiti: „In contrast to the graffiti kings, who are freeranging and make temporary claims to Space, the street gangs occupy a more fixed and permanent territory.“ (Ley Cybriwsky 1974, S. 495) Die Gang Graffiti wurden bisher am häufigsten wissenschaftlich untersucht, da sie einen direkten territorialen Bezug zeigen. Viele Veröffentlichungen über Graffiti ziehen Verbindungen oder machen Unterscheidungen. Eine weitere Verknüpfung hebt Craig Castleman hervor: „The writers in Brooklyn dealt with their problems with gangs in a direct manner: they formed gangs of their own;“ (Castleman 1982, S. 95) Das ermöglichte auch eine sicherere und effektivere Arbeitsweise in der Illegalität – erhöhte Schnelligkeit und Wachsamkeit zum Schutz vor Sicherheitsbeamten und Polizei. Political Grafitti ist eine Unterkategorie von existenziellem Graffiti, die sich auf den Inhalt bezieht, jedoch nicht auf die Darstellungsform. Die sozialen oder politischen Missstände können sowohl politische Aktivisten als auch eigentlich unpolitische Künstler und Sprüher zu politisch motivierten Inhalten bewegen, wobei eine – wohl eher unbewusste – ästhetische Annäherung stattfindet. Dabei wird oft auf etablierte und allgemein verständliche Symboliken zurückgegriffen, die neu kontextualisiert werden. In meinem Fallbeispiel werde ich dies noch genauer erläutern. Streetart ist eine weitere Kategorie, die sich erst in den letzten zehn Jahren als ergänzende Form und Praxis von Graffiti entwickelt hat. Mai und Remke nennen Streetart auch Urban Art Activism, wenn es sich hierbei um die Anwendung urbaner Methoden im urbanen Raum handelt, um Guerilla-Taktiken für die Großstadt: „The creators of so-called urban art now avail themselves of the methods developed by Writers. They infiltrate a (public) space, leave a message there and then withdraw without being recognised. Let’s call their methods ‘urban tactics‘. […] In addition to markers and spray paint, stencils, posters and stickerS are now being used.“ (Mai / Remke 2003, S. 181) Der Urban-Art-Aktivist ABOVE beschreibt in dem Buch The Art of Rebellion 2 die gemeinsamen Merkmale: „For many decades we have been individuals and groups taking their message, and creativity to the city streets to be seen, influenced, criticized, and then re-painted by the public domain. While the

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message, medium, and tacti_cs vary from person to person what gets called into attention is that we are all creating with persistent passion, and ill-regard to laws and art conformities“. (ABOVE 2006, S. 10) Viele Aktive verstehen und bezeichnen Urban Art als Phänomen, als treffendere Alternative zum Begriff Kunst, welcher immer auch eine Anbindung zum etablierten Kulturbetrieb beinhaltet.

Urbane Codes in der Postmoderne

Ob Kunst oder nicht, Urban Art ist eine ausdrucksstarke und räumliche Erscheinung, ein ‚Wunderding’ unserer Zeit, das in den letzten 40 Jahren weltweit verschiedenste Oberflächen und Räume erobert hat. Unser Hier und Jetzt hat Augé durch eine wachsende Zahl von Nicht-Orten charakterisiert und seine Bewohner als ständige Passagiere ohne Ort; wobei der Raum der Reisenden der Archetypus des Nicht-Ortes ist. Deshalb ist es sinnvoll, die Codes und Zeichen dieser Nicht-Orte zu betrachten. Baudrillard beobachtete in Kool Killer die Auswirkungen der Postmoderne und seine Zeichen genauer: „Dies ist das Zeitalter der Individuen mit variabler Geometrie. Die Geometrie des Codes jedoch – sie bleibt fix und zentralisiert. Das Monopol dieses überall im Gewebe zerstreuten Codes ist die wirkliche Form des gesellschaftlichen Verhältnisses“. (Baudrillard 1978, S. 22) Auch er sieht Graffiti als Phänomen, das sich außerhalb von Strukturen wie Kunst oder Politik befindet und bezeichnet sie als leere Signifikanten (sie erscheinen Außenstehenden als solche, doch von entsprechend Befähigten können sie mühelos dekodiert und mit Inhalt gefüllt werden). Gerade darin sieht Baudrillard Stärke, Bedrohlichkeit und Provokation: „Denn die Graffiti sind offensiver, radikaler – sie brechen in die weisse [sic!] Stadt ein, und vor allem
stehen sie jenseits von Ideologien und Kunst [.] Sie allein sind wild, denn ihre Botschaft ist gleich Null.“ (Baudrillard 1978, S. 37)
Auch Shepard Pairey sieht darin die eigentliche Kraft: „Streetart raises a lot of questions about where the message comes from and what it means, and making people question things and creating an exchange of ideas is a lot stronger than delivering something predictable“. (Fairey 2006, S. 186) Während uns der moderne Alltag mit ideologisch oder hierarchisch aufgeladenen Codes überflutet, schrumpfen die öffentlich nutzbaren oder frei zugänglichen Räume. Gleichzeitig vermehren sich die Nicht-Orte mit ihren Überwachungskameras. Nicht-Orte sind nach Augé Orte ohne Identität: „So wie der Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.“ (Augé 1994, S. 92) Die Grenzen zwischen Orten und Nicht-Orten sind fließend. In wachsenden Städten werden Orte

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wie Nicht-Orte zu einer wertvollen und umkämpften Ressource, nicht nur physisch, sondern auch diskursiv und ideologisch. Durch urbane Markierungen visualisiert sich der Wille zur Einmischung – neue Markierungen entstehen oder die herkömmlichen Bedeutungen der Codes werden mit einem Strich, einem Bild oder einem Schriftzug verändert. So sagt Manuel Gerullis, Organisator des Meeting of Styles: „Für mich ist Graffiti Ausdruck des Bedürfnisses nach Teilnahme an gesellschaftlicher und städtischer Entwicklung, und ich empfinde es als einen Schrei nach wahrer, gelebter Demokratie, als ein Aufbegehren gegen die Von oben verordnete regulierte Welt“. (Zit. nach Todt 2007, S. 50) Die Stadt zeigt territoriale Eigenschaften. Das Territorium war und ist ein Raum, den wir bewohnen. Erinnerungen an die Vergangenheit und Gedanken in die Zukunft ermöglichen uns Referenzen an Orte mit bestimmten Namen und geografischen und symbolischen Grenzen. Die GAC aus Bu-
enos Aires hat sich mit diesen Eigenschaften von Raum auseinander gesetzt und sie als Grundlage für interventionistische Aktivitäten im öffentlichen Raum der Großstadt genutzt.

Die urbanen Markieruhgen der GAC als räumliche Interventionsform

Im Dezember 2001 stand Argentinien – das bis dahin als das ‚westlichste‘ lateinamerikanische Land und dessen Hauptstadt als ‚Paris Lateinamerikas’ galt – durch eine dramatische Wirtschaftskrise im Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit. Hier verwirklichte sich der Alptraum eines jeden kapitalistisch organisierten Landes: entwertetes Geld, verlorene Ersparnisse, geschlossene Banken. Die Ursache der Krise lag vor allem in einer andauernden wirtschaftlichen Abhängigkeit des Landes, in seiner angestrebten Integration in den Weltmarkt, die Argentinien auch schon in der Vergangenheit zu schaffen machte. Die Ursachen können hier nur angedeutet werden, sie sind komplex und zum Gegenstand weltweiter Analysen geworden. Argentinien5 politische Geschichte spielt dabei eine wichtige Rolle, welche hier nur kurz umrissen werden kann. Von 1930 bis in die 40er Jahre gab es diverse Putschversuche und Militärregierungen. Ab der ersten Regierungszeit Juan Peróns 1946-1955 wurde das vorher von der Landwirtschaft geprägte Land industrialisiert. Argentinien verzeichnete in der Folgezeit wirtschaftliche Höhen und Tiefen im Wechsel. Zwischen 1955 und 1983 erlebte es einen Militärputsch nach dem anderen. Argentinien galt auch deshalb in den letzten Jahrzehnten eher als unpolitisches oder politisch unemanzipiertes Land mit wenigen politischen Bewegungen ‚von unten’ aus der Bevölkerung heraus: „In der Tat lag und liegt eine politische Linke im klassischen Sinne in Argentinien danieder. Das hat

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neben der Militärdiktatur mit dem widersprüchlichen peronistischen Erbe zu tun.“ (Brand 2003, S. 9) Umso erstaunlicher war es, dass nach der Wirtschaftskrise und dem Regierungssturz von 2001 verschiedenste Bevölkerungsgruppen – vor allem die Mittelklasse – die Straßen mit verschiedensten Protestformen eroberten: „At the end of the year 2001 the social protest movement was massive, overwhelming. The ‚spontaneity’ of its demands had put all of us on the qui vive and, as thousands went out to bang pots and pans, art also came out to condemn, to counsel and to relieve the moment of the crisis and disbelief in the system. Our suspicions were confirmed: at critical moments artistic production grows in a direct proportion.“ (Indij 2005, S. 215) Die Krise in Argentinien kam zwar mit einer unerwarteten Heftigkeit, aber nicht plötzlich, sie hatte sich bereits im Laufe des Jahres 2000 zugespitzt und markiert damit einen Zeitraum, der als Geburtsjahr der argentinischen Urban Art-Bewegung gesehen werden kann: „It was only in the year 2000 that the use of stencil-ling really took off in Argentina and developed an identity of its own. This veritable explosion doubtlessly emerged as a reaction to the country‘s political and social situation“, so die Streetart- und Grafikgruppe DOMA aus Buenos Aires. (Zit. nach Indij 2005, S. 211) Das Stencil oder die Schablone hatte sich dort als das geeignete Medium herauskristallisiert, wohl auch deshalb, weil man mit diesem Medium bereits vertraut war, da einige politische Gruppen – wie auch die GAC es bereits vorher als Interventionsmedium genutzt hatten. Das bestätigt auch Silva: „Graffiti became a vehicle for collective correction and, in Argentinia, Brazil, and Columbia, even approached a kind of music on the walls […]. In their urban stylistics, these contemporary tattoos combined the sensibilities and strategies of the popular and the university, producing new imaginaries […].“ (Silva 200313, 5.214)

GAC und HIJOS

Die Grupo Arte Callejero (GAC) aus Buenos Aires besteht seit 1997. Die Praxis der GAC besteht aus grafischer Intervention und performativer Aktion. Eines ihrer Hauptanliegen ist das Offenlegen von Verbrechen während der Diktatur in Argentinien, die bisher straflos geblieben sind. Die GAC arbeitet mit einigen Gruppen permanent zusammen, etwa Mesa de la Escrache, Familiares De Las Victimas Del 20 De Diciembre, den Desccupados, dem Colectivo Situaciones, Etcetera, Indymedia, so auch mit HIJOS. HIJOS ist eine Vereinigung, die den Zielen der Madres del Plaza de Mayo nahesteht. Seit fast 30 Jahren fordern diese Mütter nicht nur die Aufklärung des Schicksals ihrer ,verschwundenen’ Kinder, sondern auch als Großmütter, Abuelas del Plaza de Maya, suchen sie mit Hilfe von Recherche und Öffentlichkeitsarbeit nach ihren verschleppten Enkelkindern:

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„Als erste gingen die Mütter auf die Straße, um die Freilassung ihrer Kinder zu verlangen, die von den Militärs in Argentinien entführt worden waren. Am 30. April 1977, mitten in der Diktatur, trafen sich die Madres zum ersten Mal auf der Plaza de Maya in Buenos Aires. Als nächste organisierten sich die Abuelas, die Großmütter.“ (Arnold 2003, S. 173) Die Gruppe der HIJOS setzt sich aus deren Nachkommen, also aus Töchtern und Söhnen der ,Verschwundenen‘ zusammen. Sie suchen ihre ursprünglichen Familien. Die Abkürzung HIJOS bedeutet: ‚Nachkommen für Identität und Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und das Verschweigen‘ (Hijos por la identidad y la justicia contra el olvido el silencio). „Mehr als 500 Kinder von Verschwundenen, die mitverhaftet oder während der Haft geboren wurden, sind ihren Familien geraubt und Militärs oder anderen Helfershelfern der Diktatur zur Adoption übergeben werden. Die meisten kennen ihre Identität bis heute nicht.“ (Ebd., S. 173) HIJOS gründete sich 1995 und etablierten in Argentinien eine neue Aktionsform: die Escraches; Das Wort Escrache kommt aus dem Dialekt der Immigranten, Unterklassen und des Tango – dem Lunfardo; es bedeutet ‚ans Licht bringen’. Die Escraches sind eine Reaktion auf die mangelhafte Strafverfolgung der Diktaturverbrechem die bereits Mitte der 8oerjahm durch das Schlusspunktgesetz und das Gesetz über den Befehlsnotstand wieder beendet wurde, da diese Bestimmungen die gesetzliche Straffreiheit der Verantwortlichen zur Folge hatte. Die Escraches wollen die Täter, die weiterhin unbestraft im Dienste des Staates tätig sind, in ihrem Lebensraum denunzieren und sie so zumindest sozial für ihre Verbrechen zur Rechenschaft ziehen. Die Escraches finden dort statt, wo der Täter lebt und arbeitet. Der erste Escrache richtete sich 1995 gegen einen immer noch praktizierenden Arzt, der während der Diktatur in Folterzentren Frauen entbunden hatte. Der Escrache zeigte Erfolg: Der Arzt wurde entlassen und die Wohnungsbaugesellschaft drängte ihn zur Suche nach einer neuen Wohnung (2003, S. 174) In der ersten Zeit gab es alle zwei Wochen Escraches‚ inzwischen finden weniger Aktionen statt, da HIJOS mehr Wert auf die Vorbereitung der Escraches, besonders in der Nachbarschaft der Täter, legen. Oft vergehen Monate der Vorbereitung zusammen mit anderen Gruppen und Organisationen.
Die GAC arbeitet bewusst an einer visuellen Sprache und Ästhetik im öffentlichen Raum: „Uns ist die Intervention wichtig und die politische Intention. Wir haben wenig mit urbaner Kunst im Sinne von Lifestyle zu tun. Der größte Teil unserer Arbeit ist, auf Demonstrationen zu gehen, Aktionen zu begleiten und Interventionen durchzuführen. Wir nehmen uns den Raum nicht nur, um ihn zu besetzen, sondern auch um darin etwas zu tun. Wir denken den Raum als einen Raum des Konfliktes, an dem wir teilnehmen und wo man auch in das Geschehen eingreifen

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kann, wo auch Interaktion mit anderen sozialen Akteuren stattfinden kann“, (GAC. Interview. Dezember 2005) beschreibt die GAC ihre Intention. Anfangs gingen die Kunst- und Grafikstudenten noch mit ihren eigenen Projekten auf die Straße und gestalteten die Wände der Stadt mit grafischen Interventionen politischen Inhalts. Aber bereits 1998 begannen sie mit HIJOS und anderen Menschenrechtsorganisationen zusammenzuarbeiten: „Anfangs waren unsere Interventionen oder Aktionen ästhetisch sehr an unseren individuellen grafischen Arbeiten aus der Hochschulzeit orientiert. Danach haben wir uns mit unserer Ausdrucksform an die Gruppen angepasst, mit denen wir zusammengearbeitet haben, so wie bei den Escraches der HIJOS.“ (GAC. Interview. Dezember 2005) Seitdem ist bei jedem Escrache auch die GAC mit ihren symbolischen Interventionen präsent. Momentan sind sie zu acht, aber die Größe der Gruppe verändert sich, meist analog zur politischen Situation im Land. Mit Ausnahme von Einladungen zu Ausstellungen oder Diskussionen arbeitet die GAC, wie es für Urban Art charakteristisch ist, in einem illegalen oder semi-legalen Rahmen. Dadurch wollen sie die Grenzen dessen, was in einem gewissen Raum oder Ort erlaubt ist, erweitern. Ihre Aktionen bei den Escraches finden immer im öffentlichen Raum statt. „Wir wollen unsichtbar gebliebene und verschwiegene Dinge enthüllen und sie an die Oberfläche, in die Öffentlichkeit holen. Die Gruppe entstand aus der Notwendigkeit nach einer kollektiven Arbeit um die Sprache der Bilder und Symbole auf andere Ebenen zu übertragen. Bereiche, die auch in einer Verbindung zum Politischen stehen“, so die GAC. (GAC. Interview. Dezember 2005) Von jeher waren urbane Markierungen mit politischen Messages Teil der Großstädte und ein beliebtes Agitationsmittel für politische Gruppen: „Political groups take advantage of graffiti as communication because it is the safest, most economical and a highly efficient way of reaching a desired audience.“ (Alonso 1998, S. 6)

Escraches

Wochen vorher werden Motive für Schablonen und Schilder entworfen, die dann auch bereits im Stadtteil angebracht werden. Die GAC ist sich der Zusammenhänge zwischen Ort und Symbol bewusst: „Uns ist klar, dass die Codes und Symbole nicht an jedem Ort gleichermaßen funktionieren, da jede eigene Bevölkerungsgruppe ihre eigenen kulturellen Charakteristika besitzt.“ (Piovano 2005) Und so wird auch mit Stadtteilgruppen, Nachbarn und Anwohnern zusammengearbeitet, um für den Ort das jeweils angemessene Vorgehen samt Symbolik zu ermitteln. Flugblätter und Informationsveranstaltungen sollen die Nachbarn im Vorfeld über die betreffen-den Diktaturprotagonisten und ihre Verbrechen

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aufklären. Aber auch physisch wird Raum besetzt. So wird das Haus des Täters stets mit roten Farbbeuteln markiert, „als Symbol für die begangenen Bluttaten“. (Arnold 2003, S. 178) Am Tag des Escrache selber werden die Straßen und Wände entlang der Demonstrationsroute nochmals mit weiteren Parolen, Hinweisen, Schablonen, Straßenschildern und Richtungspfeilen markiert. Vor Beginn des Escrache baut die GAC einen Stand auf, an dem für die Demonstrierenden T-Shirts mit ironisierenden Wortspielen und Symbolen über den Täter bedruckt werden. Die Presse, Sicherheitspersonen und andere in die Organisation und Berichterstattung Involvierte bekommen Armbinden und Transparente. So verbringt man mehrere Stunden mit Vorbereitungen im Wohn- oder Arbeitsviertel des Täters. Der gesamte Bereich wird markiert.
Während des Escrache werden über einen Lautsprecherwagen noch einmal alle Fakten zu den Verbrechen des Täters vermittelt – mal sachlich in Vortragsart, mal ironisch als Lied zum Mitsingen – die Texte werden verteilt. Anders als in Deutschland sperren die Verantwortlichen selbst die Straßen ab und regeln den Verkehr. Mehrere Musikkapellen untermalen das Ganze und sorgen dafür, dass auch bis ins zehnte Stockwerk die Nachbarschaft etwas davon mitbekommt. Schlussendlich gelangt man zum Haus des Täters, welches meistens bereits weiträumig von der Polizei abgesperrt wurde: „Zurück bleiben Hinweise auf dem Bürgersteig oder an der Haustür: ‚Hier wohnt ein Völkermörder/Folterer‘.“ (Arnold 2003, S. 174) In der Ausstellung ExArgentina in Berlin und Buenos Aires präsentierte die GAC kartographische Überlegungen und stellte auch ihre Karte der Escraches vor: „Hier leben Massenmörder… Denunziationskarte die zur Aktion aufruft, zur Veränderung der
Haltung der Nachbarn, zur Veränderung der Raum-Wahrnehmung des Markierten. Karte die bei Gedenkmärschen am 24. März geklebt wird. In den Straßen die von der Erinnerung eingenommen werden“. (GAC
2004a, S. 78)

Symbolik und Praxis der GAC

Verschiedene Symbole – wie die Militärmütze, das Kopftuch der Madres oder die Verbots- und Achtung-Symbolik der Straßenschilder – wurden seit Anbeginn immer wieder bzw. weiter verwendet und wurden so zum Logo oder Markenzeichen ihrer politischen Praxis. Andere Symbole werden jedes Mal neu in Bezug auf den Täter und seine Verbrechen entworfen: „Das Verständnis unserer Aktionen und Symbole erschließt sich in der Regel nur durch die Aktion selbst. Denn sie liegt nicht innerhalb der Logik des Systems, sondern die Wirkung der Symbole liegt im Raum des Kontextes, von wo aus man interpretieren und eine Bedeutung

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erzeugen kann. Wenn man den Kontext grundsätzlich nicht versteht (z.B. Täter und Straflosigkeit), aus dem eine Arbeit entstanden ist, kann man auch nicht die darin liegenden Möglichkeiten sehen und kommt nicht weiter als es die Logik des Systems erlaubt“. (GAC. Interview. Dezember 2005) Die Wiederholung von Symbolen ermöglicht auch die Wiedererkennung. Die symbolische Sprache ist ein wesentlicher Aspekt in der Arbeit der GAC: „Unsere grafischen und performativen Produktionen versuchen die Sprache des Systems zu infiltrieren und von da aus kleine Verwirrungen und Veränderungen zu provozieren. Wir wollen so die Verbindungen zur Herrschaft aufzeigen und die versteckten systeme der Macht demaskieren, ohne dabei jedoch die Komplexität der symbolischen Sprache der Macht aufzuheben“. (GAC. Interview. Dezember 2005) Zwei Symbole, mit denen die GAC und HIJ05 schon seit Beginn der Escraches arbeiten und die inzwischen für beide Gruppen gleichsam stehen, sind zwei verfremdete Verkehrsschilder. Zum einen die gelben Baustellenschilder der Stadt, die geringfügig verändert nun darauf hinweisen, wie viele Meter es noch bis zum Haus des Täters sind. “Zum anderen die rot-weißen und runden ,Achtung’-Schilder mit einer Militärmütze in der Mitte und der Aufschrift „Juicio y Castigo“, was grob übersetzt ‚Prozess (im Sinne von Gerichtsverfahren) und Bestrafung’ bedeutet.
1998 begann die GAC mit diesen beiden Motiven zu arbeiten. 1999 realisierte sie zum ersten Mal ein Juicio y Castigo-Motiv von zwei Metern Durchmesser, das auf dem Plaza de Maya während des Marcha de la Resistencia realisiert wurde. Dieser Marsch entstand historisch aus den Treffen der Madres del Plaza de Maya und dem Umstand, dass die Mütter während ihrer Treffen in der Diktaturzeit auf dem Plaza de Maya nicht sitzen oder stehen durften, da es sonst als Versammlung galt und verboten war. Und so begannen die Madres im Kreis um den Obelisken in der Mitte des Platzes zu laufen. In Anlehnung an die Bedingungen von damals laufen die Teilnehmer beim Marcha de la Resistencia 24 Stunden im Kreis. Während einer solchen Demonstration realisierte die GAC ihre ersten Motive aus Stoff und Glasfaser, die auf dem Boden des Platzes permanent aufgebracht wurden. Seitdem wird jedes Jahr ein solches_Motiv
auf dem Plaza de Maya realisiert.
Der Plaza de Maya ist seit über 150 jahren das Zentrum der politischen und wirtschaftlichen Macht Argentiniens (Rathaus, Banken, Geheimdienst, Gerichte usw.). Gerade die Militärs beanspruchten während der Diktatur diesen Platz vor dem Rathaus symbolisch für sich. Durch die Praxis der Madres wurde der Platz in seiner Aussage umgedeutet bzw. in seiner Bedeutung um ihr Setting erweitert. Der Platz‘ wurde dadurch auch zum Symbol des Widerstandes in Argentinien. So beginnt oder endet jede wichtige Demonstration inzwischen hier. Dürch ihre symbolische

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Praxis versucht die GAC weiterhin diesen Ort als Symbol des Widerstandes aufrecht zu erhalten bzw. sich diesen Ort immer wieder erneut anzueignen. So sagt das Colectivo Situaciones, das eng mit der GAC zusammenarbeitet, über die Symbole der GAC: „Es sind keine Bilder der kategorischen Prinzipien, sondern Bilder eines konkreten Austauschsj‘ (GAC zo-o4b‚ s. 74) Die Urban Art der GAC ist eine Mischform aus existenziellem bzw. politischem Graffiti und Streetart. Wendet man die Theorien von Michel Foucault (2005) und Henri Lefebvre (1972) auf die Interventionen der GAC an, so besetzt sie Räume der Isotopien, Heterotopien oder auch Utopien. Ein Escrache kann nach Amos Rapoport als ein Setting (Rapoport 1994, S. 461-472) oder auch als ein System von Settings gedeutet werden. Das Setting ist nicht nur kognitiv, sondern schreibt sich auCh durch urbane Markierungen, Sprache und Performance temporär in den öffentlichen Raum ein. Ihre Markierungen visualisieren Ausschnitte kognitiver Skizzen von Stadtbewohnern, die an diesem Setting beteiligt sind. Die Markierungen können über die Dauer des Setting hinaus die Mental Maps der Stadtbewohner verändern oder erweitern. Bei der Ausstellung ExArgentina erstellte die GAC weitere Karten, die Punkte des Widerstands zeigen: Beziehungen, Werte, Taktiken, Bilder, Sprache usw. „So werden die Funktionen der Macht in alltäglichen Mechanismen und Techniken sichtbar und nicht in abstrakten Makro-Formen“ so die GAC. (GAC 2004b, S. 74) Die GAC arbeitet gezielt im symbolischen Raum: Ihre Schablonen, Plakate oder Schilder mischen sich unter die vorgegebene Ordnung und verändern die Bedeutung, den Inhalt bereits vorhandener Symbole. Laut Rapoport ist der physische Raum die dreidimensionale Verlängerung der Welt, während der symbolische Raum weitaus abstrakter ist. So wird er nur von denjenigen, welche die Symbolik verstehen, als solcher wahrgenommen; für andere bleibt er ununterscheidbar von anderen Räumen, die ebenfalls Symbolik beinhalten wie der geometrische, ökonomische oder kulturelle Raum.
Marc Augé benennt die Sinnproduktion, die zu einem großen Teil durch den Medien- und Reklameapparat stattfindet, als einen wichtigen Aspekt der,Postmoderne oder Übermoderne, wie er es nennt. (Vgl. Augé 1994, S. 117-125) So ist die Urban Art der GAC auch ein Gegenspieler der kommerziellen Bilderschau und des vorgegebenen Symboldschungels. Viele ihrer Produktionen außerhalb der Escraches haben bekannte grafische Werbemotive inhaltlich verfremdet. Diese hinterlassenen Symbole im öffentlichen Raum führen nach Beendigung des Setting ein Eigenleben. Neue Imaginationen oder Utopien entstehen im Zusammenspiel von Symbol und Betrachter. Dies hat Silva mit: der Formulierung „punto de vistd ciudadano“ beschrieben (Silva 1992. S- 39-43): Das Symbolische ist
offen für multiple Bedeutungen und die Interaktion mit dem Betrachter

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kann Kommunikation schaffen. Für Silva ist die Kraft der Erinnerung und der Imagination der stärkste Aspekt von Territorium. Die Arbeit der GAC beschäftigt sich sowohl inhaltlich als auch symbolisch mit Erinnerung. Deshalb könnte man nach Silva ihre Praxis und Markierungen auch als territorial bezeichnen. (Silva 1992, S. 59f und 2003a, S. 30) Die Markierungen der GAC existieren für unterschiedliche Zeitspannen, die nicht vorhersehbar sind, und sich der Dominanz der kapitalistischen Codes entgegenstellen.
Im Sinne Rapoports wäre ein Escrache ein zeitlich und räumlich begrenztes Setting. Dabei beinhaltet ein Escrache die Organisation von Raum, Zeit, Bedeutung und Kommunikation: Die GAC organisiert einen Escrache in einem Stadtteil von Buenos Aires zu einer bestimmten Uhrzeit, um mit Anwohnern und Teilnehmern zu kommunizieren,“ um gemeinsam zu protestieren. Laut Rapoport sind bebaute bzw. gestaltete Umwelten sichtbar gewordene soziale Netze. Sie sind physischer Ausdruck von kognitiven Schemata. (Vgl. Rapoport 1994, S. 489-492) Ein Escrache zeigt ein sonst für andere unsichtbares soziales Netz. Ein Escrache ist ein Beispiel für den physischen Ausdruck eines kognitiven Schemas, das nie gebaut wird, sondern nur durch spezielle Settings manchmal sichtbar wird. Durch ein neues Arrangement von semi-festen und nicht-festen Feature-Elementen kann nach Rapoport ein Raum/Ort neu strukturiert und definiert werden (Vgl. ebd., S. 461f.) – im Fallbeispiel passierte das am offensichtlichsten mit dem Plaza de Maya bei den Demonstrationen der HIJOS.
Die offiziellen Markierungen im öffentlichen Raum dienen als Gedächtnisstütze an das Regelwerk, wie Rapoport verdeutlicht. Die symbolischen Markierungen der GAC verdrehen die Bedeutungen der Symbole, also die Erinnerungen an die zu befolgenden Regeln. Rapoport stellt fest, dass kulturelle Subgruppen unterschiedliche Navigations- und Orientierungssysteme benutzen. (Vgl. ebd., S. 492-494) 50 hat auch die GAC durch ihre symbolische Praxis ein eigenes Navigationssystem‚ erschaffen – aus Orten der Aktion und des symbolischen Widerstands, wie weiter oben bereits anhand der Kartographie beschrieben. Für Rapoport und Bourdieu ist räumliche Organisation immer der Versuch, einen Raum und die Personen in ihm zu beeinflussen. So demaskiert die GAC diese Kontrollversuche ebenso subtil, wie die Herrschaft sie verschleiert. Auch bei einem Escrache wird der Raum temporär klassifiziert und kontrolliert. Aber ihre Kontrolle soll keine absolute sein, sondern lediglich das Setting ermöglichen, um dadurch einen Austausch, einen Ort der Kommunikation bzw. des Konfliktes zu Schaffen. Der Raum soll also in seiner differenziellen Eigenschaft genutzt und gestaltet werden. Damit arbeitet die GAC ganz im Sinne Silvas auch an der Gestaltung der Stadt als Kunstwerk.

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Wichtig sind die kommunikativen Eigenschaften von Urban Art. Diese Art der Kommunikation hat mindestens zwei Ebenen: Eine ist die Praktik des Schaffens von Urban Art, die Intervention. Während der Graffiti-Writer unbewusst politisch handelt, tun es die Macher von politischer Urban Art, wie die GAC, gezielt und bewusst. Eine weitere Ebene ist die Kommunikation mit dem Betrachter: Das Graffiti, Stencil oder Poster entwickelt nach seiner Platzierung im Raum ein Eigenleben, welches sich erst im Zusammenspiel mit dem Betrachter entfaltet: „Diese Art mit dem Raum umzugehen, verweist auf eine spezifische Tätigkeit (von Handlungsweisen), auf eine andere Räumlichkeit (eine anthropologische, poetische und mythische Erfahrung des Raumes) und auf eine undurchschaubare und blinde Beweglichkeit der bewohnten Stadt. Eine metaphorische oder herumwandernde Stadt dringt somit in den klaren Text der geplanten und leicht lesbaren Stadt ein.“ (De Certeau 1992, S. 198) Für Silva ist das Produzieren von Imaginationen Bestandteil jeglicher politischen Strategie. Er sieht Urban Art als Reaktion auf Veränderungen, besonders in Bezug auf eine Nicht-Korrespondenz zwischen Stadt und Urbanismus. So sind die urbanen Markierungen für ihn neue Formen des urbanen Ausdrucks und auch Antworten auf Phänomene oder Veränderungen des sozialen Großstadtlebens. (Vgl. Silva 2003a, S. 30) Die urbanen Markierungen der GAC weisen ganz konkret auf Konflikte des sozialen Lebens in Buenos Aires hin. Es sind Symbole, die sowohl die Geschichte der Stadt mit einbeziehen wie auch aktuelle Probleme. Die Symbole der GAC tauchen auch in anderen Städten wie San Pablo, Medellín oder Berlin auf, wo aber der geschichtliche und kulturelle Hintergrund der Stadtbewohner ein anderer ist.
Bourdieu betont, dass das Städtische nicht frei von Unterdrückung ist und dass sich dieser repressive Charakter der Stadt in räumlichen Vorstellungen ausdrückt. (Vgl. Bourdieu 1997, S. 118-120) In der Stadt hat alles Symbolwert und die städtischen Zeichen von Macht zeigen sich nach Lefebvre als Über-Objekte – die Stadt selbst ist in seiner Gesamtheit ein Über-Objekt. (Vgl. Lefebvre 1972, S.130-131) In diesem Zusammenhang kann auf die Architektur und Topografie von Buenos Aires hingewiesen werden, die als ein Innbegriff der Über-Objekte und Super-Zeichen zu sehen ist (die breitesten Straßen der Welt, die höchsten Gebäude usw.) und je größer die Entfernung zu ihnen wird, umso größer wird auch die Armut. Lefebvre räumt ein, dass die MaCht nie alles vollkommen unter Kontrolle hat und dass die unterdrückten Anteile der Stadt ständig versuchen, an die Oberfläche zu gelangen. (1972, S.130-131) Als solcher Moment kann die Krise bzw. der Regierungssturz von 2001/2002 in Argentinien gefasst werden: „Protest graffiti began to appear on the improvized defensive shutters erected

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in the front of the banks. It called on people to participate, to get active on the streets. […] Art was back on the streets again, saying what had to be said for those who cared to look“, sagen Belén Dezzi und Guido Indij über Urban Art und die Krise. (Indij 2005, S. 215)

Der veränderte anthropologische Raum und die Möglichkeiten urbaner Markierungen

Die hier erwähnten Theorieansätze suchen jeweils nach Möglichkeiten, wie der Begriff Raum fassbar, vergleichbar und damit nutzbar gemacht werden kann. Alle genannten Autoren weisen auf die psychologischen Eigenschaften, die imaginären oder kognitiven Aspekte, von Raum hin. Die weit reichende Relevanz von Imagination, die vor allem Silva untersucht hat, gilt es hervorzuheben: „[T]here is nothing more characteristic of a culture, and of each person in it, than their imaginations.“ (Silva 2003a, S. 18) In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung von Räumen in jene mit imaginären und jene mit rein physischen Eigenschaften oder beidem sinnvoll, also eine Differenzierung von Isotopien, Heterotopien und Utopien, wie sie von Augé, Foucault oder Lefebvre aufgezeigt wurden. Isotopien sind die physischen Orte, die wir kennen – was uns im Alltag vertraut ist. Heterotopien sind die „anderen Räume, die aber einen physischen Ort haben, reale Orte jenseits aller Orte. Aber sie können auch Gegenräume des Alltags sein, etwa spontan umfunktionierte Räume. Die Utopien sind Räume ohne physischen Ort. Urban Art kann Utopien, das Unsichtbare sichtbar machen. So glaubt auch Lefebvre, dass alles in der Stadt lesbar ist, alles einen Symbolwert hat. (Vgl. Lefebvre 1972, S.130-131) Rapoport ermittelt im Setting die kleinste vergleichbare Einheit von Raum. (Vgl. Rapoport 1994, S. 461-466) Kommunikation und Bedeutung haben sich bei Rapoport, Silva, Augé oder Lefebvre als weitere wichtige Aspekte herauskristallisiert. Beide sind stark mit der Symbolik verknüpft, die sowohl Kommunikation als auch Bedeutung transportiert. Die differenzielle Eigenschaft von Raum ist Grundvoraussetzung für Kommunikation. Im Gegensatz dazu ist ein
homogener Raum nicht kommunikationsfähig. Raum ist auch immer mit Herrschaft und Kontrolle verbunden. Die genannten Autoren weisen mit unterschiedlicher Dringlichkeit auf die Hierarchien hin, die der Organisation von Raum zugrunde liegen und zu beachten sind.
Ich halte die These Augés von der Veränderung des anthropologischen Raums für grundlegend, da sie in unmittelbarem Zusammenhang mit dem vermehrten Auftreten der urbanen Markierungen zu sehen ist.
Urbane Markierungen sind als Anpassung an die sich ständig vermehrenden Nicht-Orte zu sehen. Worauf auch Rapoport hinweist: „In the past it has also been the case that as transportation has become faster

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and cheaper, space has ‚shrunk‘, and the way in which it is used and organized has consequently changed. This applies to the world as a whole, to regions, cities, and so on […]. Airports, highways, railroads, telephone lines, radio and tv towers, mail systems, pipelines and other services are forms of the organization of communication that also play an important role in structuring contemporary cultural landscapes.“ (Rapoport 1994, S. 491-492.) Etwas radikaler formuliert es Baudrillard‚ wenn er sagt, dass es kein Zufall ist, dass ausgerechnet die Autos brennen, wenn die Straße wieder zum sozialen Raum wird: „Der Autoverkehr [ist es], der die Städte in gewisser Hinsicht in einem permanenten Kriegszustand hält und die Straße als sozialen Raum dekonstruiert.“ (Baudrillard 1978, S. 33) Darin sieht Augé die Schwierigkeit einer Ethnologie des Hier und Jetzt; immer mit dem Anderswo konfrontiert zu sein, ohne dass man es zu einem klar unterscheidenden Objekt machen könnte: „Wir leben also in einer Welt, in der das, was die Ethnologen traditionell als ‚kulturellen Kontakt‘ bezeichnen, zu einer allgemeinen Erscheinung geworden ist“. (Augé 1994, S. 128) Der Reisende ist ein Archetyp der Postmoderne und sein Hauptaufenthaltsort ist der Ort des Transits. Das hat Konsequenzen für den Ort, der in Bezug auf seine Geschichte entsozialisiert und artifiziell wird. Diese Veränderungen betreffen auch das Individuum: Was bedeutet es, dass wir ständig unterwegs sind und uns an Nicht-Orten befinden? Für Augé bedeutet es eine zunehmende Einsamkeit des Individuums, denn die Nicht-Orte stiften keine Identität. Urbane Markierungen stiften hingegen Identität, sowohl für den Ort als auch für den Schöpfer sowie für den Betrachter, welcher sich mit einer Kultur, einer Botschaft oder einer Ästhetik identifizieren kann. Und auch wenn Augé von einer neuen Einsamkeit spricht, so befürchtet er nicht, dass die klassischen von den Ethnologen untersuchten Räume und Orte verschwinden, sondern dass sie sich gewandelt haben, Deshalb plädiert er für eine ethnologische Untersuchung der Nicht-Orte. Urbane Markierungen finden sich nicht ausschließlich, aber häufig an Nicht-Orten, weshalb ihre Untersuchung in diesem Zusammenhang sinnvoll ist. Foucault wünscht sich eine Wissenschaft der Heterotopien, der anderen Orte, die in Bezug auf Urban Art hauptsächlich im Kreieren von Gegenräumen zu suchen ist. (Vgl. Foucault 2005, 3.11)
Eine Stadt ohne Markierungen oder Gebrauchsspuren ist nicht denkbar. Urbane Markierungen ohne Raum sind nicht möglich. Ilse 5cheppers erklärt diese Symbiose in ihrer Arbeit Graffiti and Urban Space: „Space is, without question, the inspiration and obsession behind the graffiti subculture. Issues of identity, the construction of the male self, and the flow of communication between writers are all spatially based and determined. […] Identity is constructed on the walls of the city by writers […]. I would suggest that without space, graffiti becomes

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meaningless“. (Scheppers 2004) Armando Silva ist sich sicher, dass uns die Graffiti-Bilder helfen können, die urbane Kommunikation zu verstehen. (Silva 1992, S. 31-35; 2003b, S. 213-220) Auch Scheppers verdeutlicht die kommunikativen Aspekte von Graffiti: „This ability of graffiti to extend a communicatory network throughout the city is breathtaking. By using words on walls and word of mouth, the community is kept informed. […] Graffiti constructs the city as much as bricks and mortar; it sneaks into the periphery and challenges the hegemonical order“. (Scheppers 2004) Rapoport betont die Zusammenhänge von Raum, Zeit, Bedeutung und Kommunikation. (Vgl. Rapoport 1994, S. 466) Bourdieu hebt die Beherrschung des urbanen Codes durch Staatssystem und Eliten hervor. (Vgl. Bourdieu 1997, 5.121f) Baudrillard sieht deshalb das Privileg der Zeichenproduktion durch Graffiti attackiert. (Vgl. Baudrillard 1978, S. 30) Urbane Markierungen machen Netze und Felder des urbanen Raums sichtbar: „Our eyes listen and hear the city street telling a story to everyone that walks by. In a literal sense the streets have a unity with each other. Each street is woven amongst a large web of energy that forms the city. Respect and acknowledge that each road leads to a different path and each person is able to take a different route to their destination“, sagt der Aktivist ABOVE. (2006, S. 10) Augé betont, dass Ort und Nicht-Ort fliehende Pole sind, zwischen denen „das verworrene Spiel von Identität und Relation ständig aufs neue seine Spiegelung findet“. (Augé 1994, S. 93)
Im Gegensatz zu den kapitalistisch instrumentalisierten, also decodierbaren Zeichen, haben die sinnentleert scheinenden Markierungen “einen befreienden Effekt: „Diese oder jene Straße, jene Wand, jenes Viertel wird durch sie hindurch lebendig, wird wieder zum kollektiven Territorium. […] Indem sie die Wände tätowieren, befreien SUPERSEX und SUPERKOOL sie von der Architektur und machen sie wieder zur lebendigen, immer noch sozialen Materie, zum beweglichen Körper der Stadt vor seiner funktionalen und institutionellen Markierung.“ (Baudrillard 1978, S. 35) Identität und Raum sind grundlegende Aspekte urbaner Markierungen. Wo Identität verdrängt wird, bahnt sie sich an anderer Stelle erneut ihren Weg. Durch das langjährige Trial-and-Error-Prinzip vieler identitätssuchender, anfangs jugendlicher Akteure, haben sich Nicht-Orte als optimaler Raum für ihre Aktivitäten herausgestellt und vor allem als ein geschickter Angriff auf die Zeichenherrschaft. Dies muss von den Akteuren nicht intellektuell verstanden werden, die Ergebnisse sprechen für sich: „Denn die zentrale Stellung des Codes ist heute die eigentliche Definition der Macht: das Urbane (und nicht mehr die Stadt) als Zentralstelle des Codes.“ (Baudrillard 1978, S. 22) Das Medium hat sich als ideale Message in Bezug auf urbane Identität und den Kampf um sie bewährt. Und das Spiel der Zeichen im Raum

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beruht nicht nur auf Werten, die vorgegeben werden, es steht jenseits von Hierarchien – es ist der „Einbruch in das Urbane als Ort der Reproduktion und des Codes […] das Spiel der Zeichen beruht nicht auf Kraft, sondern auf Differenz; vermittels der Differenz also muss es attackiert werden“. (Baudrillard 1978, S. 30) Urban Art kann auf Veränderungen im globalen städtischen Raum hinweisen und kann die unsichtbaren Netzwerke urbaner Akteure punktuell visualisieren. Im Gegensatz zu den symbolischen Codes der Macht haben die urbanen Markierungen der Stadtbewohner kommunikative und differentielle Eigenschaften. Urbane Markierungen liefern wichtige Informationen und eröffnen neue Kategorien bei der Untersuchung von Räumen, die in der Anthropologie zunehmend an Wichtigkeit gewinnt. Denn „das soziale Spiel scheint anderswo als an den Vorposten der Gegenwart stattzufinden“, wie Augé formuliert. (Augé 1994, S. 130) So ist die Stadt selbst eine
komplexe Heterotopie im Sinne Foucaults, die wir als solche aber noch nicht wahrzunehmen gelernt haben, wir können ihre Bilder und Codes nicht dechiffrieren. Mit der GAC habe ich eine politische Gruppe als Beispiel gewählt, da die Zusammenhänge von Urban Art und politischen, gesellschaftlichen Veränderungen hier besonders deutlich werden. In der Situation der Übermoderne besteht ein Teil der Umgebung, in der der Ethnologe forscht (der unmittelbare Ort der Beobachtung und die Grenzen der umgebenden Regionen) aus Nicht-Orten, „und ein Teil dieser Nicht-Orte aus Bildern.“ (Ebd., S. 138) Laut Augé wird im Nebeneinander der Orte und Nicht-Orte das Politische den Ausschlag geben (Vgl. ebd., S. 134). Augé deutet bereits viele globale Veränderungen an, die 1994 so noch gar nicht in ihrem ganzen Ausmaß absehbar waren. Er erfasst bereits die Problematik der Nationalstaaten und ihrer Zusammenschlüsse wie die der UNO oder der EU (Vgl. ebd., S. 131-135) die mit ihrem Zwang des Ortes und des Zentrums in Anbetracht der globalen Kommunikationsnetze und Flüchtlingsströme unzeitgemäß wirken, denn ihnen haften archaische Denkschemata an, die den Sprung in die Übermoderne noch nicht vollbracht haben, im Gegensatz zu den globalen Akteuren der Straße.

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INTERVIEWS

GAC. Interview. Dezember 2005.

Notes:

  1. 1 Siehe dazu Augé 1994. S. 53-89. Dem folgenden Zitat geht der Satz voran: „Der Ort, den der Ethnologe und jene, von denen er spricht, gemein haben, ist im präzisen Sinne ein Ort: der Ort, den die Eingeborenen einnehmen, die dort leben und arbeiten, die ihn verteidigen.“
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