LA EXPLOSIÓN COMO REACIÓN – EXPLOSION ALS REAKTION
Interview Bianca Ludewig
Die wirtschaftliche Krise Argentiniens beförderte 2001/2002 zusammen mit der kochtopfschlagenden Mittelklasse auch eine Urban-Art-Welle ans Licht. Die vier Grafiker aus Buenos Aires gehörten zu den Ersten, die 1998 mit Stencils und Aufklebern in den öffentlichen Raum gingen und dadurch dem folgenden Hype den Weg ebneten. Inzwischen gehören sie zu den etablierten Grafikteams Argentiniens. Sie haben internationale Auftraggeber und nahmen weltweit an Ausstellungen teil. Neben ihren eigenen Publikationen erschien vor kurzem ein Buch über die Stencilmania in Buenos Aires mit dem Titel „Hasta La Victoria Stencil“, für dessen Vorwort sie verantwortlich zeichnen und in dem auch ihre Stencil-Arbeiten zu sehen sind.
„Wir haben auch einen Kandidaten zur Wahl geschickt. Eine Art Karikatur des McDonalds-Clowns. Das Ganze ist eine Parodie. Wir haben Flyer aus dem Lautsprecherwagen verteilt und ihm eine Website gemacht.“
BACKSPIN: Was war das Erste, das ihr gemacht habt?
MATIAS: Unser erstes Projekt war ein Siebdruckworkshop! Wir besorgten uns gemeinsam das Equipment und fingen an, Postkarten, Poster und Aufkleber zu machen und in der Stadt zu verkleben! Das war 1998/1999. Viele unserer Poster und Sticker wurden schnell mitgenommen, vom Regen zerstört oder auch entfernt. Und so fingen wir an, Stencils zu malen. Wir arbeiteten damals viel an Orten wie Bushaltestellen oder Bahnhöfen in der City. Wir benutzten die Ästhetik, Symbolik und Schriften der Werbung, aber verbreiteten andere Inhalte, denn wir wollten verwirren!
BACKSPIN: Wie habt ihr euch kennen gelernt? Wie hat sich DOMA gegründet?
JULIAN: Wir waren im letzten Jahr unseres Grafikstudiums und hatten auch schon nebenbei in Grafikstudios gearbeitet. Einer von uns studierte auch Film. Wir waren unzufrieden mit unserer Arbeitsrealität und der Situation an der Uni. Deshalb wollten wir gemeinsam grafische Projekte außerhalb der Arbeit und Universität machen. Zu diesem Zeitpunkt haben wir uns viel mit Design und Straße beschäftigt. Wir waren eine offene Gruppe – mit Studenten sowie Künstlern und Grafikern von außerhalb.
BACKSPIN: Gab es damals schon viele Stencils?
JULIAN: Nein, fast gar nicht. Erst in den letzten Jahren gab es diese unglaubliche Streetart-Explosion in Buenos Aires. Es gab damals eher vereinzelte Oldschool-New-York-Graffitis – hauptsächlich Wildstyle. Und es gab einige wenige politische Stencils, aber alles, was es damals gab, hatte nicht diese Attitude von Streetart. Damals haben wir viel mit der Gruppe FASE gemacht, denn wir waren ähnlich unterwegs. Die machten damals ein Design-Fanzine und arbeiteten oft mit Stencils. Viele der Stencils in Buenos Aires sind von ihnen. Die gibt’s wie uns auch heute noch, und wir spielen regelmäßig Fußball gegeneinander.
BACKSPIN: Woher, meint ihr, kam dieser plötzliche Boom?
MATIAS: Durch die Krise. Das wirtschaftliche Drama hat alle destabilisiert! Keiner blieb unberührt davon. Es gab ein unglaubliches Bedürfnis, einfach mehr sagen zu müssen! Viele, die vorher ihren Alltag in einer Art Halbschlaf lebten, wachten plötzlich auf und fingen an, aktiv zu werden! Es gab diesen Drang, sich individuell und klar von anderen Gruppen oder Individuen unterscheidbar auszudrücken. Und die Wände der Stadt füllten sich allmählig mit Botschaften, Insignien und Symbolen. Kunst und Politik spielten bei fast allen eine Rolle, weil Politik durch die wirtschaftliche Krise zum Alltag geworden war.
JULIAN: Wenn dich etwas nicht direkt betrifft, dann gibt es für die meisten keinen Grund zur Handlung, und da es alle betraf, fing jeder an zu handeln. Das war eine Antwort auf die Krise. Für viele war Gewalt nicht das angemessene Mittel – statt Steine zu schmeißen, wollten viele auf andere Art ihren Unmut ausdrücken.
BACKSPIN: Trotzdem finde ich das ungewöhnlich, denn normalerweise werden diese bürgerkriegsartigen Momente des Protests nicht von Kunst begleitet ?
JULIAN: Es gab beides. Es gab jede Art von Protest. Es gab auch viel Angst. Wenn du die Zeitung kauftest, wusstest du nicht, was als Nächstes auf dich zukommt – was gleich wieder dein Leben verändern wird. Jederzeit konnte eine Meldung den Kurs aufs Neue ändern. So zu leben, hat an den Nerven gezerrt!
BACKSPIN: Wie hat euch das Ganze persönlich getroffen? Hattet ihr Geld auf der Bank?
JULIAN: Ich hatte kein Geld auf der Bank, aber meine Eltern. Wenn man nicht selbst stark betroffen war, so waren es die Menschen, die einem nahe standen. Außerdem hat Argentinien eine sehr spezielle Geschichte, die von Diktatur geprägt ist, von der brutalsten Diktatur in Lateinamerika. Unsere Vergangenheit war so von Gewalt geprägt, dass viele andere Formen des Protests suchten. Diese Zeit war natürlich wundervoll, um auf die Straße zu gehen und zu malen. Die Staatsgewalt hatte andere Sorgen, und die Menschen auf der Straße waren solidarisch und voller Tatendrang. Aber nach der Krise waren die meisten einfach abgestumpft. Es gab hier so viele Demos, Ausschreitungen und Aktionen, dass nur sehr wenige Sachen auf der Straße noch Erstaunen oder Reaktionen hervorrufen. Wir haben vor kurzem eine Aktion mit einer sieben Meter großen Riesenpuppe in der Innenstadt gemacht. Keiner hat reagiert.
BACKSPIN: Gab es von euch eine künstlerische Reaktion auf die Krise?
MATIAS: Das Land stand in Flammen, und ein Präsident löste den nächsten ab. In einer Woche hatten wir fünf Präsidenten. Eduardo Dualde konnte sich dann für kurze Zeit halten und rief zu Wahlen auf. Wir haben dann auch einen Kandidaten zur Wahl geschickt. Eine Art Karikatur des McDonalds-Clowns. Das Ganze ist eine Parodie. Wir haben auch Flyer aus dem Lautsprecherwagen verteilt und ihm eine Website gemacht. Ein Freund von uns, der auch ein ganz passabler Schauspieler ist, hat die Rolle übernommen und auch Wahlkampfreden gehalten. Reden über die neoliberale Zukunft Argentiniens – und Roni spricht mit einem US-amerikanischen Akzent. Wir hatten die unterschiedlichsten Reaktionen: von Gleichgültigkeit über Ablehnung bis zu Begeisterung.
JULIAN: Die Reaktionen auf die Roni-Kampagne zogen sich über einen längeren Zeitraum hin. Es war ja nur ein weiterer Moment in dem großen Chaos gewesen. Deshalb machten wir auch nach dem Wahlkampf weiter, das Projekt lief über ein Jahr! Wir realisierten, dass Roni für jedes Land der Welt heutzutage kandidieren könnte, und machten weiter. Roni wurde zu einem universellen Symbol. Roni’s Welt kann überall sein: geklonte Babys, harte Drogen, viel Arbeit und ein Ausbeutungssystem, das perfekt funktioniert – um einige Merkmale zu nennen. Und nach über einem Jahr kam auch der Erfolg: Wir wurden in alle möglichen Länder der Welt eingeladen, um unser Projekt vorzustellen. So auch nach Deutschland zu der Ausstellung „No Tango“ (Krise und Kultur – Städtepartnerschaft Berlin/Buenos Aires) und zur „Pictoplasma“-Konferenz (Meeting zum Thema Character-Design) in Berlin.
BACKSPIN: Wie kam es von Projekten auf der Straße zu den kommerzielleren Arbeiten für MTV und andere Multis?
MATIAS: Wir haben auch die ganze Zeit über in Agenturen gearbeitet. Julian ist dann für zwei Jahre nach Miami zum Arbeiten gegangen und hat dort viele Leute getroffen. So wurde durch ihn unsere Arbeit auch bei MTV und anderen US-amerikanischen Unternehmen bekannt. Als er vor einem Jahr wiedergekommen ist, konnte er viele Klienten mitnehmen.
BACKSPIN: Beschreibt doch bitte euren Stil oder ein paar repräsentative Arbeiten etwas ausführlicher!
JULIAN: Jeder von uns vieren hat einen anderen Stil, und DOMA ist das Ergebnis aus diesem gemischten Salat. Wie andere auch, wollen wir den Blickwinkel der Leute verändern. Als wir unser Projekt mit den U-Bahn- und Bus-Bannern mit diesen verfremdeten Messages gemacht haben, wollten wir Schlafende wecken. Oder wir haben in die Hinweisschilder für Behinderte dem Rollstuhlfahrer ein Waffe gemalt … Oder ein Schulschild, wo wir dem Erwachsenen, der das Kind führt, eine Waffe in die Hand malten und ihn so zum Kidnapper machten. Einfach verwirren, Symbolen neue Bedeutungen geben. Das war unsere Idee und unser Stil am Anfang! Und mit Roni haben wir ihn weiterentwickelt! Und unsere kommerziellen Projekte müssen all unsere anderen Verrücktheiten finanzieren.
BACKSPIN: Gibt es einen typisch argentinischen Stil oder einen lokalen Stil hier in Buenos Aires?
MATIAS: Ja, ich denke schon. Es gibt diese ganzen verschiedenen Gruppen hier, die hauptsächlich Stencils machen. Auch wenn viele technisch noch nicht so weit entwickelt sind wie der europäische Stil, gibt es hier mittlerweile eine große Bandbreite an Variationen.
JULIAN: Trotzdem denke ich, dass Schablonen hier am meisten gemalt werden und auch inzwischen ein gutes Niveau erreicht haben. Viele betreiben hier dieses Verfremden von Symbolen. Und inzwischen kommen auch viele internationale Künstler hierher: Dr. Hoffmann, Obejas Negras, Banksy – und das verbessert auch den Stil der lokalen Künstler.
BACKSPIN: Welches Land ist in Lateinamerika am aktivsten in Sachen Urban Art?
JULIAN: Brasilien, auf jeden Fall!