PRAHA CITY LOVERS

Text | Fotos Bianca Ludewig | Layout Gizmo


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In Prag laufen die Fäden der Tschechischen Hip-Hop-Netzwerke zusammen. Hier organisiert Bbarak Konzerte, das tschechische Battle Of The Year, nationale DJ- und Beatbox-Contests, das europäische Chapter von ITF sowie das größte osteuropäische Hip-Hop-Festival, das „Hip Hop Kemp“. Neben den vielen Veranstaltungen steht der Name Bbarak auch für ein Plattenlabel sowie ein 60 Seiten starkes Hip-Hop-Magazin und einen Hip-Hop-Store. Überhaupt ist Bbarak mitverantwortlich für fast alles, was hier in Sachen Hip-Hop passiert. Trotz solcher Infrastrukturen bleiben die Tonträger Europas für Europäer jenseits der eigenen Landesgrenzen hard to get. Mit Fokus auf Tschechien stellt man fest, dass Vorurteile geografische Grenzen vertiefen. Denn außer einigen Graffiti-Videos kommt hier, auf der anderen Seite des „großen Grabens“, wenig Osteuropäisches an. Ist es tatsächlich ein Scheitern an Sprachbarrieren, oder sind wir einfach Ignoranten?

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„Die Situation in Tschechien ist diese:
Erst Prag und dann der Rest.“

Die erste Entdeckung, die man bei einer Fahrt nach Prag machen kann, ist Tschechien selbst. Mit Kronen in der Tasche fährt man durch die Sächsische Schweiz, weiter in die Tschechische. An der Elbe entlang, die dann Labe heißt, ab durchs Erzgebirge. Autobahn Richtung Achterbahn. Praha, prosim! Englisch hilft einem nur noch bedingt weiter. Aber das sind Banalitäten. Denn das Einzige, was hier wirklich zählt, ist: Can you speak Hip-Hop? Prags Stärke in Sachen Hip-Hop-Culture ist Graffiti. Das macht Sinn. Denn vor den Writern haben schon andere gestaltende Künstler wie Architekten oder Bildhauer dieser Stadt ihre Handschrift verpasst. Little Big City! Seit der Velvet Revolution im Jahre 1989 sind Berlin-Besuche Standard für die Prager, und dabei haben sie früh ihre Begeisterung für Graffiti entdeckt. Nachdem sie zunächst die Styles und Techniken der Berliner übernahmen, fanden sie schnell ihren eigenen Writing-Stil. Deshalb ist Prag auch eine Delikatesse. Für alle, die mit den Augen genießen. Wunderschöne Architektur mit unendlich vielen verschwenderischen Details verbindet sich harmonisch mit der Zeichensprache urbaner Kalligrafie. Und wenn man Prager Asphalt unter den Sneakern spürt, kann man sich gut vorstellen, dass Gebäude ein organisches Eigenleben führen. Gerne auch eine Symbiose mit Tags oder Throw-ups eingehen. Die Straßen erzählen viele Geschichten. Unendliche Geschichten von Tragik und Schönheit.

Die Prager sind gute Gastgeber, weshalb einige Prager Privatadressen regelrechte Writer-Hostals geworden sind, wo sich internationale Gäste die Klinke in die Hand geben. Auch die Gäste vom „Hip Hop Kemp“ oder ITF fühlten sich immer gut aufgehoben, und so konnten die Prager im Laufe der Jahre viele Kontakte und Freundschaften aufbauen. „Die Situation in Tschechien ist diese: Erst Prag und dann der Rest“, erzählt Affro, Multitasker im Prager Hip-Hop-Universum. Er erzählt auch, dass die Deutschen in Tschechien nicht sehr beliebt sind. Und das liegt nicht nur an der politischen Vergangenheit oder an dem Verhalten der deutschen Sex- und Kasino-Touristen. Es betrifft auch individuelle Haltungsfragen. Außerdem empfindet man Deutsch als harte Sprache. Mit einem Härtegrad, der den tschechischen Geschmackssinn beleidigt. Deshalb interessiert sich auch niemand für Rap aus Deutschland. Aber die deutsche Musikindustrie hat auch keinen Vertrieb in Tschechien. Und das spiegelt wider, was ohnehin für jeden Tschechen klar ist: Den Deutschen geht Tschechien am Arsch vorbei. Niedrige Löhne bedeuten attraktive Produktionsbedingungen. Und die Konsumenten aus Europas erster Klasse können billig essen und zollfrei einkaufen. Aber die meisten Devisenbringer kommen, um günstig zu saufen und preiswert zu ficken. Und daher machen die Tschechen gerne Witze über die Deutschen. Fragt man nach Deutschland, dann sagt uns der Prager Rapper Indy: „Passt auf eure Wertsachen auf! Hier kommen die Taschendiebe.“ Dass Europa nicht gleich Europa ist, wissen Deutsche durch Deutschland am besten. Aber die Prager warten nicht auf Care-Pakete. Darauf sind sie nicht angewiesen, und das wissen sie auch. Denn in Prag geht einiges, so oder so. Und die Prager sind entschlossen, aus den Fehlern des europäischen Westens zu lernen und den zeitlichen Vorsprung aufzuholen.

Am Anfang war der Buchstabe

Aus Prag kommt auch das Graffiti-Video „Quality Control“. Der Film ist auf angenehme Weise anders als die meisten Dokus dieser Tage. Während sonst die Produktionen früher oder später durch Überlänge oder Monotonie anstrengend werden, bleibt der inoffizielle „Kick The Shit“-Nachfolger einfach gelassen. Und überzeugt trotzdem selbst konservative Writer. Sympathische Instrumentals geben das Tempo der vorbeiziehenden Buchstaben vor. 2MAD und BLINK (CMR- und TOP-Crew) konservieren Rooftops und Streetbombing, Trainaction und jede Menge schmucke Wholecars. Und offenbaren dabei Ansichten von Prag, die über Yards und Garagentore hinausgehen. Beim zweiten Video, das pünktlich zum neuen Jahr fertig wurde, hat 2MAD fast alles alleine gemacht. Weshalb jetzt wieder die Trains überwiegen: „Es war mir wichtig, dass weiter Videos gemacht werden, denn seit den ,Kick The Shit‘-Videos gab es keine Dokumentation mehr über das, was in Prag passierte“, erzählt er. Aber das war wichtig. Denn wenn es um Prag geht, sollte man als Erstes an Graffiti denken. Affro erklärt: „Als Hip-Hop hier 1993 begann, waren wir unbewusst auf der Suche nach etwas, das auf uns aufmerksam macht, etwas, worin wir besonders gut sind. Und wie sich herausstellte, war das in Prag Graffiti.“

Und so beginnen die Geschichten der Prager Pioniere immer mit Graffiti. Auch die von Indy & Wich: „Wir sind Praha City Lovers. 1993 fingen wir an mit Graffiti. Ich war damals ein jugendlicher Autonomer mit Iro und allem, was dazugehört. Ich bekam von einem Freund ein altes ,Overkill‘-Magazin aus Berlin. Es war voller Fingerabdrücke, weil es schon durch so viele Hände gegangen war.“ 1994, mit fünfzehn, traf Indy dann Wich, blieb noch eine Weile Punker und malte: „Bis dahin hatte ich nur ,Anarchy‘, ,Sex Pistols‘ und sowas gemalt. In der Zeit gab es eigentlich keinen Rap in Tschechien. Nur Graffiti. Wir malten viele Züge.“ 1998/99 hörten sie dann damit auf. Weil Wich die Turntables für sich entdeckte und Indy kurz darauf das Rappen. Die Geschichte der Prager Oldschool-Combo PSH ist ähnlich. Sie waren eine richtige All-Star-Crew. Orion, der Rapper, ist sowas wie der Godfather des tschechischen Hip-Hop. In den Neunzigern hatte er seine Finger in allem, was hier in der Richtung passierte: Er organisierte Konzerte, die PSH-Crew machte das „Terrorist“-Magazin, die ersten „Kick The Shit“-Videos sowie eine der ersten osteuropäischen Compilations, den „East Side Unia“-Sampler.

Good bye Lenin – Ahoi Bbarak

Im hügeligen Auf und Ab der Altbauten von Praha 3 ist der Bbarak-Shop. Er ist zugleich Redaktions- und Veranstaltungsbüro – und auch immer wieder Schlafplatz der Bbarak-Crew. Inzwischen haben die meisten auch eine eigene Wohnung, da einige Bbaraks seit dem letzten Jahr ihre Tätigkeiten zum Job ausweiten konnten. Seitdem ist Affro auch bezahlter Chefredakteur. Trotzdem wird das Hochbett über dem Lager noch oft genutzt. Es gab Zeiten, da teilte Affro dieses Matratzenlager nach durchgearbeiteten Nächten mit drei oder vier Kollegen. Affro ist ein Musik-Nerd im Surferlook. Sein Vater und er hörten in den Achtzigern Rock und Metal, während der Rest Tschechiens Akkordeon- und Trompetenmusik hörte. Affro hatte lange Haare, was im Kommunismus nicht einfach auszuhalten war. Zu der Zeit gab es auch einen ersten tschechischen Rap-Versuch, berichtet Affro: „Die Gruppe Man_elé brachte 1984 ein Demo raus. Sie lebten in einem dieser Ost-Ghettos und hörten eine deutsche Radiostation, woher sie auch den Song ,New York, New York‘ von Grandmaster Flash kannten. Sie machten daraus eine Coverversion über ihre Stadt. Natürlich war es nicht besonders gut, aber es war der erste Schritt in Richtung Rap.“

Nach der Revolution bekam Man_elé sogar einen Plattenvertrag für einen Re-Release, aber die Tschechen waren immer noch nicht bereit dafür: „Damals in den Achtzigern sahen alle gleich aus und hörten die gleiche Musik, es war verboten, Westmusik zu hören, und im Fernsehen gab es nur Propagandafilme. Als die Velvet Revolution kam, war das für unser Musikinteresse großartig“, erzählt Affro. Während Affro’s Familie sich von den neuen kulturellen Möglichkeiten ernährte, schienen alle anderen nichts von der „neuen“ Musik mitzubekommen, und Affro verachtete sie. Mit dem Westfernsehen kamen auch Snap, Technotronic, MC Hammer, Vanilla Ice und später „YoMTV Raps“ in Affro’s Musikleben. Die Shoutout-Listen der CDs wurden zu Wegweisern im neuen Musikkosmos. Allerdings war es in diesem Schlaraffenland etwas einsam. Affro kannte niemand sonst, der Hip-Hop hörte. Irgendwann sah er Public Enemy im Fernsehen, und sie offenbarten, was er bisher nur ahnte: das Potenzial von Hip-Hop. Da wusste er, dass er durchhalten musste. Als er schließlich mit siebzehn auch andere traf, die Rap hörten, war Affro mit seinem Wissen außen vor. Während die anderen Jungs vielleicht fünf Rap-Tapes zuhause hatten, besaß er mehr als 500. Dadurch war schnell klar, wo seine Aufgabe liegt: „Ich ließ mir immer Magazine aus anderen Ländern mitbringen und beobachtete das Geschehen. Wir hatten nichts in der Richtung in unserer Sprache, nichts, was unsere Entwicklung dokumentierte.“

Und so beschlossen er und seine Kollegen eines Tages, dass jetzt ein Magazin her muss – um Kommunikation und Information zu verbessern. Alle gingen noch zur Schule, und natürlich hatte keiner Geld, aber es gab einen Computer mit Internet-Anschluss. So entstand im Februar 1999 die erste Online-Ausgabe des ersten Hip-Hop-Magazins für Tschechien. Es lief ziemlich gut mit dem Internet. Im Sommer 2001 waren dann die ersten Ressourcen da, um eine Druckausgabe zu wagen: „Am Anfang hatten wir 32 Seiten alle zwei Monate, bei einer Auflage von 3500 Stück. Jetzt drucken wir 64 Seiten jeden Monat und verkaufen 10 000 Exemplare“, resümiert Affro. Das Label war für Bbarak eine logische Konsequenz aus ihrer Arbeit: Denn auch eine Veröffentlichung kann Motivation für Talente sein. Zur reinen Verbreitung der Musik haben sie auch einige CDs releast, der Schwerpunkt aber ist Vinyl.

„Als Hip-Hop hier 1993 begann, waren wir unbewusst auf der Suche nach etwas, das auf uns aufmerksam macht, etwas, worin wir besonders gut sind. Und wie sich herausstellte, war das in Prag Graffiti.“

„Hey, Mister DJ“

Die DJs brauchten Vinyl zum Auflegen! „Wir haben hier in Tschechien die erste 12-Inch rausgebracht, das war eine Maxi von Indy & Wich. Problematisch ist, dass man nicht mehr als 200 Stück pressen kann, da der Vinylmarkt auf tschechische DJs beschränkt ist, weswegen es immer ein Verlustgeschäft war. Allerdings ein notwendiges“, kommentiert Affro. Indy & Wich, die inzwischen auf ihrem eigenen Label erscheinen, blieben die einzigen Prager, die Bbarak in Vinyl verewigt hat. Affro bemerkte damals auch, dass einige seiner Freunde gute DJs wurden. Aber ihnen fehlte noch der richtige Kick, der letzte Schliff. Er realisierte, dass es notwendig war, Battles zu organisieren, damit die Competition mehr Motivation für das stumpfe Üben ermöglicht. Affro wollte, dass die tschechischen DJs auch international an den Wettbewerben teilnehmen konnten. Sie fragten bei Alex Aquino vom ITF nach und bekamen ein Regelwerk, das ihnen eine Teilnahme unmöglich machte. Deshalb organisierte Bbarak schließlich 1999 das erste nationale DJ-Battle „Hey, Mister DJ“ in Prag. 2000 folgte das zweite Battle, der Club war ausverkauft. Das war ein großer Moment, denn die Leute kamen damals – laut Affro – nur wegen der DJs und nicht, um Showcases zu sehen. Als auch die DMC bemerkte, dass sich in Tschechien langsam eine DJ-Kultur etablierte, versuchten sie nach zehn Jahren einen Wiedereinstieg. Aber sie verloren bei ihrem Battle eine Menge Geld und strichen Tschechien erst mal wieder von der Landkarte. Inzwischen hatte sich aber auch beim ITF einiges geändert. Mittlerweile waren andere Leute zuständig, und von Deutschland aus wurden die internationalen Chapter unterstützt: „Als Frankreich letztes Jahr kurzfristig das europäische Chapter abgeben musste, übernahmen wir in letzter Minute die Organisation“, berichtet Affro.

Dieses Jahr fanden die European ITF Finals wieder in Prag statt. Mit einem ausverkauften Club, 1200 partymotivierten Besuchern, zwei Konzerten, diversen Showeinlagen und pünktlichem Ende. Damit war das European Final in Prag auch rasanter und schweißtreibender als die deutschen Finals. Affro beschreibt die Bbarak-Taktik folgendermaßen: „Wir überlegen uns sehr gut, wie wir den Laden vollkriegen können. Das wäre ohne Planet Asia und das Album-Release-Konzert von Kontrafakt, die zurzeit in Tschechien und der Slowakei die populärste Rap-Gruppe sind, nicht möglich gewesen.“ DJ Trafik, der frisch gebackene Experimental-Class-Europameister, meint: „Die deutschen DJs werden noch eine Weile die besten bleiben. Zuerst waren es die Amerikaner, danach kamen dann die besten DJs aus England. Aber in vier Jahren werden es die Tschechen sein.“ Und Rafik von den Lordz of Fitness, Worldchampion im Scratching und in der Advancement-Class, findet das auch nicht unangemessen: „Die tschechischen DJs sind erstaunliche Newcomer. Die Platten und Breaks, mit denen sie arbeiten, sind zwar für die westeuropäischen Turntablists veraltet, aber das liegt eben an der eingeschränkten musikalischen Infrastruktur und den finanziell schlechteren Bedingungen der Tschechen.“

„We laugh about goldchains“

„Kommunismus bleibt für uns das Schlimmste! Wir dachten damals, dass der Kapitalismus die Lösung unserer Probleme ist. Aber natürlich fanden wir schnell heraus, dass dem nicht so ist“, meint Affro einleitend. 1993 ging es hier also los. Gruppen wie WWW, PSH oder Coltcha traten in Erscheinung und verschwanden wieder. 1996 unterschreibt eine unbekannte Gruppe namens Chaozz einen Vertrag bei Polygram und bringt ein Album mit Rap-Elementen raus. Über Nacht werden sie zur Sensation und verkaufen ihr Debüt über 50 000-mal. Für Affro zeigten die Verkaufszahlen einfach, welches Interesse sich für Hip-Hop in den letzten Jahren unbemerkt entwickelte hatte. Deph, einer der Rapper von Chaozz, beschreibt die Situation wie folgt: „Wir wurden durch die Medien aufgeblasen. Nach einem halben Jahr konnten wir nicht mehr einkaufen gehen, ohne erkannt zu werden. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Das Gerede, ob wir nun Hip-Hop seien oder nicht, beeinflusste nicht nur unser Verhältnis untereinander, sondern auch unsere Arbeit an den nächsten Alben.“ Ihre Platten verkauften sich trotzdem weiterhin. Die Jungs von PSH machte das richtig sauer – ein paar Sechzehnjährige, die noch nicht mal rappen können, fahren die Ernte ein. Ein unsanftes Erwachen für PSH in der Realität – aber damit auch Zeit für Competition! Und so erscheint Orion wieder auf der Bildfläche. Ein entscheidender Moment für die tschechische Hip-Hop-Entwicklung: Orion fängt an, Hip-Hop-Konzerte und Events zu promoten, startet das Graffiti-Magazin, macht die Videos, beginnt mit den „East-Side“-Compilations. Die PSH-Crew gründet ihr eigenes Label Terrorist? Records und veröffentlicht 2001 schließlich ihr Album „Repertoar“, eine Platte, die jeder kennen sollte, wenn es um Tschechien geht.

Chaozz hat noch drei weitere Alben über Universal rausgebracht. Darunter noch einige Edelmetaller. Besonders Deph a.k.a. Gato nutzte die Majorjahre, um sich Know-how und ein Studio aufzubauen: „Für das vierte Album habe ich in meinem Studio alles abgemischt und gemastert, alle Beats und Lyrics gemacht. Es war sehr experimentell. Aber dadurch wurde klar, dass wir unseren eigenen Weg gehen.“ Man merkt Deph an, dass der frühe Fame seine Spuren an ihm hinterlassen hat und dass er sich seine eigene „Identität“ hart erkämpfen musste. 2001 verlassen Chaozz den Major und lösen die Gruppe auf. 2004 hat Universal noch eine Best-of-CD von Chaozz auf den Markt geworfen.

Sneakers in Rausch und Zeit

England, Amerika, Österreich, Italien, Deutschland, Ungarn, Slowakei, Polen, Schweden, Tschechien. Über dem Eingang zum „Hip Hop Kemp“ hängen brav aufgereiht die Nationalfahnen der Teilnehmer – was zu lustigem Fahnenraten animierte. So kann Reichtum auch aussehen! Herkunft oder Kontostand sind egal, Style ist, was zählt. Toni L bestätigt: „Wir sind super begeistert vom Kemp, weil die Stimmung bombastisch ist und das Ambiente urlaubsmäßig. Es gibt keine Star-Allüren und keine Politik, die Leute sind gut drauf. Einfach nur Hip-Hop-Jam!“ Die Härtebedingungen, die auf dem Campingplatz herrschen, werden durch gute Musik und tschechisches Bier überwunden. Neben dem Line-up der Gruppen und DJs überraschten oft kleinere Akrobatik-Shows und Theaterperformances. Oder Extreme-Chilling im Teezelt, wo man Wasserpfeife rauchen konnte und die Wahl zwischen zwanzig erlesenen Teesorten hatte.

Doch gab es auch die Standards wie ITF-Eliminations, Freestylebattles, Graffiti-Wand oder Breakdanceshows. Film- und Doku-Freaks konnten sich in Graffiti-Videos oder Hip-Hop-Videomagazine vertiefen. Den Abend beendete jedes Mal „Winnetou“ in voller Länge. Denn das „Hip Hop Kemp“ befindet sich am Silbersee. Das erschien den Veranstaltern schicksalhaft genug, sodass sie drei Abende lang „Vinetou“ zum Runterkommen zeigten. Weshalb denn Winnetou und sein brother in fame auch auf dem Programmheft zu sehen waren. Mit „Peace“-Zeichen. Darunter die Aufforderung: Make it more than just a fashion symbol. Und tatsächlich war es friedlich. Vielleicht war es Winnetous Spirit, der es möglich machte? Oder die hippieske Kemp-Parole: Enjoy your life in love and peace. Oder der geile Sound, der jede Aggression absorbierte. Denn der Sound war überall fett – und das Bier billig! Gespart wurde an zweitrangigen Dingen wie Trinkwasser, Klopapier oder Toiletten überhaupt. Dafür aber gab es keinen Streit und keine blöden Anmachen! Um einen herum: Wald und schöne Natur. Inklusive Wespen, die sich am Müll labten.

„Wir sind super begeistert vom Kemp, weil die Stimmung bombastisch ist und das Ambiente urlaubsmäßig. Es gibt keine Star-Allüren und keine Politik, die Leute sind gut drauf. Einfach nur Hip-Hop-Jam.“

Das „Hip Hop Kemp“ ist inzwischen mit 12 000 Besuchern das größte Festival dieser Art im osteuropäischen Raum. Es war eine Idee von Babs. Er war besessen von der Idee und kam den anderen Pragern immer wieder damit. Seinen Kollegen, der Bbarak-Crew, allen eben. Und alle sagten von Anfang an, dass es in Tschechien unmöglich wäre. Die Zielgruppe war zu klein und damit auch das Budget. Aber er glaubte mit störrischer Leidenschaft daran. Auf dem ersten nationalen Breakdance-Battle 2001, das Babs mitorganisierte und das gleichzeitig Release-Party für die erste „Bbarak“-Printausgabe war, wollte er als Startschuss einen Kemp-Trailer spielen. Aber es kamen nicht genug Leute, und er sah ein, dass die Zeit noch nicht reif war. Man dachte jetzt, Babs wäre von seinem Wahn geheilt, aber im nächsten Jahr klebte er Plakate – mit Datum und Ort, aber ohne konkrete Namen – und spielte den Trailer. Man redete auf ihn ein, aber er hörte auf sein Gefühl und bestand darauf, es jetzt durchzuziehen. Babs fing mit der Promotion an, buchte die ersten Acts. In den Wochen vor dem Festival kamen dann 2002 die großen Flutwellen. Der Großteil Tschechiens war überflutet. Erstaunlicherweise war Pardubice, das an der Elbe liegt, nicht überflutet, und es kamen 3500 Besucher. Babs und die Depo-Crew hatten es getan. Haben es getan. Dreimal!

Die Meisten stehen dem Unbekannten erst mal skeptisch gegenüber. Und die Momente der Freiheit, im Sinne von Unvoreingenommenheit, sind meist nur kurz. Was der Homie nicht kennt, frisst er nicht. Aber das Angebot in Prag oder beim „Hip Hop Kemp“ ist so gut, dass man als bemühter Musikfanatiker zeitlich gar nicht so viel Feinkost konsumieren kann. Deshalb schaltet man in Prag am besten erst mal drei Gänge oder Wholecars runter und lässt weniger mehr sein. Dann kann man Geschichte fühlen und die Kalligrafie der Prager Straßenwindungen verstehen. Denn es reicht manchmal, einfach nur zu sein. Dabei zu sein: Beim „Hip Hop Kemp“ schauen, wie die Sneakers vorbeiziehen, während man Hip-Hop als Sprache anwendet und sich durch das Teesortiment trinkt. Dann kommt mit den Gezeiten der Gedanken und des Apfeltabaks in euren Lungen vielleicht auch die Erinnerung an dieses Zitat von Dendemann wie Treibholz angeschwommen: „Das hier ist so ziemlich das Schönste und Idyllischste, was ich seit langem erlebt habe. Hier kann man sich reinen Gewissens mal wieder so richtig hip-hop fühlen. Und ich hatte noch nie so sehr das Gefühl, dass Hip-Hop eine universelle Sprache ist.“

www.hiphopkemp.de | www.hiphopkemp.cz | www.bbarak.cz
www.panther.cz | www.hip-hop.sk | www.prosto.pl | www.hip-hop.hu

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