Veröffentlicht 2013/01 in SKUG 93
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BIANCA LUDEWIG TEXT/FOTOS
Anstatt immer nur von IDM (Intelligent Dance Music) zu sprechen, sei hier einmal auf ADM – Apocalyptic Dance Music – hingewiesen. Genres wie Dubstep, Drone, Witchhouse, HipHop, Jungle, Grime, Reggaedub oder Juke mögen zwar durchaus auch apokalyptische Elemente bergen, im Folgenden soll es sich aber besonders um Gabber und Breakcore drehen.
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Eine immer wiederkehrende Frage in der Popmusikforschung ist die nach den widerständigen oder subversiven Potenzialen von Musik. Gibt es so etwas wie sonischen Widerstand? Welche Potenziale beinhalten apokalyptische Musikstile und besitzen diese möglicherweise sogar utopische Momente? Was eine Antwort auf die Frage nach Widerständigkeit in der Popmusik zusätzlich verkompliziert, ist die Zeit, in der wir leben, denn heute sind dissidente Potenziale auch immer Marktpotenziale. Widerständigkeitspotenzial verliert daher zwar nicht an Relevanz, verlangt aber nach anderen Methoden und Diskursen. »Kultur« ist ein neuer Big-Player in den globalen Creative Cities geworden und ein Hoffnungsträger in der Stadtentwicklung der Gegenwart, wie Ingo Bader und Albert Scharenberg 2005 am Beispiel von Berlin aufgezeigt haben. 1 Die Begrifflichkeiten von Utopie und Apokalypse können ergänzend genutzt werden, um sozialpolitische Potenziale in bestimmten Strömungen der Popmusik aufzuzeigen, die vor allem auch in der Musik selbst, im Sonischen, zu finden sind.
Das Hardcore-Kontinuum
In seinem Buch über die Rave-Kultur fasste der Musikjournalist Simon Reynolds 1999 einige apokalyptische Genres unter dem Begriff »HardcoreKontinuum« zusammen. 2 Diese Formulierung wurde im letzten Jahrzehnt wiederholt aufgegriffen, zum Beispiel von dem britischen Philosophen und Produzenten Steve Goodman (aka Kode9) in »Sonic Warfare« (2009). Goodman rekapituliert: »Simon Reynolds nannte das ›Hardcore Kontinuum‹ einen sonischen Vektor, der Stile wie Hardcore/ Jungle/ Drum’n’Bass/ 2Step/ Grime usw. durchläuft.« 3 Dem Hardcore-Kontinuum, das auf Innovation und Manipulation durch sonische Grenzüberschreitungen aufbaut, ist immanent, dass es mit jedem ›Übergriff‹ schwieriger wird, neue Limits zu übersteigern, da hierdurch jedes Mal der zukünftige Möglichkeitsraum verkleinert wird. Dies mag auch erklären, warum viele, allen voran Simon Reynolds mit seinem Buch »Retromania« 4, das Ausbleiben von Innovation im letzten Jahrzehnt beklagen. Reynolds fragt 1999 folgerichtig: »Was bedeutet die affektive Aufladung eines bestimmten Bass Sounds, eines speziellen Rhythmus?« 5– und deutet damit schon an, was das Hardcore-Kontinuum ausmacht, nämlich seine sonischen Eigenschaften, und das Potenzial psychoaktive und affektive Wirkungen entfalten können. Die Musikstile, die hier untersucht werden, nutzen Technologien und Produktionstechniken wie Synthesizer oder Drumcomputer und das Sampling oder Remixen. Auch ist eine extrem schnelle und harte, in der Regel synthetische Bass Drum ebenso charakteristisch wie radikale Gegensätze und Kontraste. Entscheidend ist vor allem die Perkussion, die der Literaturwissenschaftler Kodwo Eshun »Rhythmusmaschine« nennt; 6 denn diese kann Energien zur Entfaltung bringen, die eine utopische oder apokalyptische Dynamik erzeugen. Meist jedoch beides zugleich. Reynolds spricht deshalb auch von einer Dialektik: »Die utopisch/dystopische Dialektik [zieht] sich wie ein roter Faden durch die Ecstasy Kultur, denn der Hunger nach dem Himmel auf Erden antizipiert fast immer eine ›dunkle Seite‹«. 7
Elevate the Apocalypse!
Die Begriffe von Utopie und Apokalypse haben sich in ihrer Bedeutung verschoben. So gab es eine Entwicklung weg von einem Utopia-Hype durch Säkularisierung, Aufklärung und Fortschrittsdenken hin zu einem Apokalypse-Boom. Doch das apokalyptische Modell ist weder ›rechts‹ noch ›links‹; es kann mit unterschiedlichen ideologischen Inhalten gefüllt werden. Die Bedeutung der Konzepte Utopie und Apokalypse hat sich durch ideologische Vereinnahmungen von Politik oder Kulturindustrie in der jüngeren Vergangenheit verändert. Neue Konnotationen kamen hinzu, alte wurden abgelegt. Die globale Verflechtung von Kultur, Ökonomie und Technologie hat zu einer Konvergenz – einem Sich-Aufeinander-zu-Bewegen – der Bedeutungen dieser Begrifflichkeiten geführt. Die säkularen Katastrophen der Moderne sind keine Apokalypsen im alten Sinn, die Motive der Apokalypse tauchen hier nur noch als Versatzstücke, Zitate und entfernte Ähnlichkeiten auf, aber sie verbindet mit der Offenbarung des Johannesevangeliums das Enthüllende. Die Sprache der Gewalt der Apokalypse hat aber nicht nur destruktive Wirkungen, sondern eine symbolische Zerstörung kann auch anregend und inspirierend für Bewegungen oder Subkulturen wirken, so als Moment der Katharsis, wenn den politischen Strukturen ihre eigene Melodie im Remix vorgespielt wird. So ist die musikalische Sprache der Gewalt häufig ein Merkmal der Musik des Hardcore-Kontinuums: Diese wird durch Zerbrechen oder Zerhacken von Beats, über Verzerrung oder gezielte Manipulation in der Geschwindigkeit erreicht. Bei Goodman, Eshun und auch Reynolds spielt der von Paul Gilroy 1993 geprägte Begriff des »Black Atlantic« eine zentrale Rolle. 8 Der Black Atlantic umfasst jene Musikformen und Stile, die auf Afrika, die Karibik und Lateinamerika zurückzuführen sind. Ebenso wie ihre gesamte Diaspora, vor allem in den USA und Großbritannien. Gilroy sieht die Kunst, Musik oder Wissenschaft des Black Atlantic als eine Gegenkultur zur Moderne. Die Erfahrungen von Sklaverei, Kolonialismus, Ausbeutung, Flucht und Migration transportieren sich laut Gilroy über die Musik des Black Atlantic. Diese entsteht also aus der eigenen Apokalypse. Der Afrofuturismus, der oft als Synonym für Black Atlantic verwendet wird, kann als eine Antwort auf Kolonialismus, Post-Kolonialismus und TechnoKolonialismus – die Kolonisierung der digitalen vierten Welt durch den Westen –, gedeutet werden. Die Musik des Black Atlantic kann als kulturelles Hacking verstanden werden, denn sie entwickelt mithilfe neuer Technik und Technologien eine virale globale Verbreitungskraft, wie beispielsweise die Geschichte der HipHop-Kultur mit ihren internationalen Stilblüten anschaulich aufzeigt. In seinem Artikel zur »Evolution des SensoBrutalismus« beschreibt der Kulturtheoretiker, DJ und Produzent Alexei Monroe, wie sich die elektronische Musik immer wieder von neuem refragmentiert, sobald eines seiner Genreverästelungen zu dominant oder konventionell wird. 9 Nach seinen Beobachtungen legt die Geschichte der elektronischen Musik der 1990er Jahre uns nahe, dass mit dem Fortschritt der technologischen Möglichkeiten ebenso die Anzahl der Ausdifferenzierungen,
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also der Subgenres, steigt. Dieser Prozess gilt nicht nur für elektronische Tanzmusik, wird aber innerhalb dieser Entwicklung am explizitesten sichtbar. Klang-Mutationen können als Reaktionen auf Veränderungen in einem popmusikalischen Feld und dessen gesellschaftlichem Kontext gesehen werden. Elektronische Tanzmusik und vor allem Techno galt (ebenso wie der technische Fortschritt selbst) als die letzte große utopische Hoffnung in Subkultur und Popmusik, viele sahen darin das Potenzial einer möglichen Gegenkultur zum Bestehenden. Das beschreibt auch der BreakcoreProduzent, DJ, Theoretiker und Aktivist Christoph Fringeli in »Hedonismus und Revolution«: »Wir beobachten einen kurzen Moment, wo die Revolution zum Greifen nahe scheint, wo ein kultureller Bruch Hand in Hand mit einem politischen Bruch ginge. […] In den 1990er Jahren theoretisierten wir bei Datacide, neben anderen, die Technoszene als eine mögliche proletarische Gegenkultur. Für einen Moment hatte der Technorave dieses Potenzial, aber nun nicht mehr, es ging verloren.« 10 Ähnlich argumentiert die Musikzeitschrift De:Bug 2011, wenn sie die Verbreitung des Internets als alltäglichen Gebrauchsgegenstands mit der schlagartigen Öffnung eines Archivs der Popkultur im Allgemeinen und der Popmusik im Besonderen vergleicht, denn die Überfülle überfordert und lähmt – zumindest temporär – den Sinn für Gegenwart und Zukunft der Popmusik: »Dass dieses Ereignis die vertrauten Innovationszyklen musikalischer Produkte aus dem Tritt gebracht hat, ist inzwischen eine Binsenweisheit. Zu dieser – ausgerechnet durch den technischen Fortschritt ausgelösten – Entwicklung kommt allerdings noch eine weitere […]: die Demontage der Zukunft als Heilsversprechung, basierend auf ideologischen und/oder technischen Prophezeiungen. Dieses Modell der Zukunftsvorstellung funktioniert unterdessen aber nicht mehr, weil das Vertrauen in Ideologien und technische Machbarkeit sich gründlich diskreditiert haben.« 11 Wir leben also in einer Zeit der gescheiterten Utopien und das nicht erst seit gestern. Möglicherweise vollzieht sich gerade der lang prophezeite endgültige Abschied von der Utopie, den der späte Ernst Bloch in den 1970ern noch mit einem Fragezeichen versah. Axel Stockburger spricht 2010 im Band »Utopia of Sound« von einer internalisierten Utopie im Subjekt der Sonic Culture, einer Relokalisierung der Utopie in der Einsamkeit, im Privaten, im individuellen Körper: »Utopie scheint nicht mehr das Ergebnis einer Suche nach idealisierten alternativen Interaktionen und Regeln zwischen sozialen Subjekten zu sein; und tendiert dazu ein Platzhalter für die diffuse Anhäufung potenzieller Handlungen im Interesse des Individuums zu werden.« 12 Die gemeinschaftlich-solidarisch anvisierte bessere Welt der Zukunft wird in die neuen technischen Möglichkeiten von Soundproduktion im Hier und Jetzt des Individuums verlagert. Dies klingt nur bedingt verlockend.
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Apokalyptische Momente im Gabber und Breakcore
Über apokalyptische Momente in der Popmusik kann das menschliche Sicherheitssystem gestört werden. Gabber und Breakcore sind auch als Gegenreaktionen zur sich kommerzialisierenden Techno-Bewegung entstanden. Sie erzeugen mit Bass-Drums wie Bombeneinschlägen und SnareDrums wie Maschinengewehrfeuer ein apokalyptisches Klanggewitter. Hinzu kommen häufig Sprachsamples, die – wie Punchlines im Rap – die Funktion selbstreferentieller Kommentare der Härte übernehmen. Selbstreflexivität und Selbstreferentialität waren von Beginn an Kernbestimmungen der DJ- und Sample-Musik. Und dies ist laut Ulf Poschardt keine Angelegenheit intellektueller Auseinandersetzung, sondern Resultat der Produktionsmethode. 13 Die Samples kommentieren einerseits häufig sich selbst, aber damit gleichzeitig auch das kulturelle Klima ihrer Zeit, das von extremer Gewalttätigkeit und Tabubrüchen in Filmen, im Fernsehen, in Computerspielen usw. bestimmt wird. Die übersteigerte Geschwindigkeit, die Effektivität der dominierenden Sounds, der strikte Aufbau der Songstruktur und die verzerrten Klänge, die Industrie und Mechanisierung widerspiegeln, funktionieren laut Alexei Monroe als psychische Waffen, die gegen die vorherrschende Sozial-Lyrik zum Einsatz gebracht werden. Mechanisierung und Industrialisierung von Klang hatten, so Monroe, historisch stets eine Nähe zur dunklen Seite, zum Unheimlichen. Monroe sieht im Zelebrieren von Geschwindigkeit auch eine kreative Rekapitulation und eine implizite Kritik am Konsumterror. Gabber bezeichnet Monroe als »Post-Musik«, Musik nach einem apokalyptischen Szenario, welches die Produzenten mit ihrer Musik aufrufen und aktivieren. Gabber- oder BreakcorePartys, auf denen die Musik durch eine gute Anlage überhaupt erst sonisch zur vollen Entfaltung kommt, funktionieren auch als temporäre Schmerzausschaltung, welche die HörerInnen und TänzerInnen durch ein Versenken, ein Vertiefen in das Bombastische erreichen, also durch ein Abtauchen in die sonische Apokalypse. Der sonische Terror wird jedoch durch seine HörerInnen umkodiert. Die Beschleunigung des Gabber und seiner schnelleren Subgenres wie Speedcore oder Splittercore sieht Monroe als ein Versuch über die Geschwindigkeit des Datenflusses und des Cultural-Flow hinaus zu gelangen, also jenseits der Beschleunigung zu beschleunigen. Die Weigerung von Gabber oder Breakcore, im Speedlimit zu bleiben und auch Melodien zu verneinen, zielen so auf die Ablehnung eines ganzen musikalischen Wertesystems. Die extreme sonische Härte von Gabber oder Breakcore, die Nihilismus und Hedonismus zum Ausdruck bringen, machen die Musik meist schwer vermarktbar. Die permanente Mutation in neue Mikrogenres »erschwert die umfassende Kolonisierung durch den kulturellen Markt«. 14 Auf den Partys und Events dieser Musikgenres, zelebrieren die AkteurInnen mit ihrer sonisch-brutalen Lieblingsmusik einen Klangkrieg, um Terror mit Terror zu bekämpfen. Die elektronische Musik des Raves kann als letzte große subkulturelle Utopie der urbanen Gegenwart gedeutet werden. In dieser Funktion zeigt sie, zum Beispiel anhand der Geschichte der Loveparade, anschaulich die Probleme der Utopie im globalen Kapitalismus, nämlich, dass Demokratisierung allzu leicht in Kommerzialisierung umschlägt. Die musikalischen Eigenschaften von Gabber und seinen Subgenres erzeugen eine Ästhetik, Ambiguität und Mehrdeutigkeit, welche diese Musik auch für rechte politische Tendenzen attraktiv macht. Die Ambiguität wirft auch implizit die Frage nach Humor, Zensur und künstlerischem Wert auf. Im Breakcore scheint man rechten Tendenzen sonisch durch experimentellere Praxen und der Absage an den 4/4-Takt entgegenzuwirken, was auch Alexei Monroe beschreibt: »Einige experimentellere Produzenten an den Rändern der Szene […] sind extrem politisiert und ultra-links, aber im Allgemeinen bringt die Aggression unspezifisch kulturelle Spannungen und Strukturen zum Ausdruck.« 15 Die politische Verortung von Musik erfolgt aber schlussendlich durch das soziale Umfeld, denn das Sonische ist weder rechts noch links, sondern wird durch die MacherInnen und HörerInnen mit Inhalten gefüllt, vor allem sie kulturalisieren den Schall der Musik.Die sonische Absage von Gabber und Breakcore an die sich damals gerade etablierende neue Mainstreammusik Techno enthüllt eine Utopie der Apokalypse. Der sich bereits Anfang der 1990er Jahre anbahnende Ausdifferenzierungsprozess von Mikrogenres spiegelt auch die rasende Schnelligkeit einer Globalisierung des Kapitals. Für Steve Goodman wird der gegenwärtige globale Kapitalismus von einer »Kolonisation der Audiosphäre« begleitet. Epidemische Ohrwürmer und Audioviren zerfressen unsere Gehörgänge und kreieren den Hype in Serienproduktion. Das Hardcore-Kontinuum besiedelt und besetzt die Audiosphäre aber auf seine ganz eigene Weise, nämlich durch sonische Grenzüberschreitungen, die neue Räume der Audiosphäre erschließen. Gabber und Breakcore funktionieren unter spezifischen Umständen selbst als kultureller Virus – in jedem Fall durchlöchern sie die Sphäre der elektronischen Musik und schaffen dadurch neue Räume und Pfade: »Anstatt die Vergangenheit statisch zu behandeln oder sie zurückzulassen, funktionieren afrofuturistische Sonic Fictions als Wege, Trassen oder Pfade der Vergangenheit in die Zukunft – durch asynchrone Zeit-Loops oder zeitliche Anomalien, werden sie wie ein Kommuniqué jenseits der Gegenwart als Vorahnungen oder Zukunftserinnerungen wie Radiowellen übertragen.« 16 Hier geht es Goodman um unerforschte Möglichkeitsräume der Sonic Fiction. Durch apokalyptische Musikstile werden aber auch konkrete geografische Räume erobert und geschaffen, also Orte an denen die Musik – temporär oder stationär – gemacht und gehört wird. Das Remixen und Scratchen von Schallplatten und das Looping und Sampling von Musik hat die Basis für alle kommenden Formen elektronischer Musik für den Dancefloor geschaffen, wie Goodman verdeutlicht, wenn er sagt, verschiedene Dance Music-Subkulturen »drum up acoustic cyberspace« und zwar »durch das, was Kodwo Eshun als rhythmischen Futurismus des Black Atlantic beschrieben hat und was Simon Reynolds mit seinem Begriff HardcoreKontinuum markierte.« 17
Narrative in den Trümmern von Pop
Laut dem Politologen Richard Saage wird gerade durch den technischen Fortschritt die idealtypische Unterscheidung von Utopie und Apokalypse unterwandert. Er bezeichnet die Apokalypse auch als »Abfall der Moderne«. 18 Apokalypsen mutieren zu einer Konsequenz der utopischen Welt. Der Fehlschlag der Utopien provoziert vielfältige Apokalypsen, diese können auch sonisch sein, dann werden sie zu Gabber, Breakcore, Dubstep oder HipHop. Das subversive Potenzial äußert sich im Sonischen und im Sozialen, weshalb Eshun und Goodman auch vom Audiosozialen in Zusammenhang mit Sound sprechen. Die rohe Härte von Gabber oder Breakcore und die Ausdifferenzierung in Mikrogenres sind als Symptom, aber auch Versuch des Aufbegehrens gegen das Zur-Ware-Werden zu sehen. Hierin liegt ein Widerstandspotenzial, wie Monroe verdeutlicht, wenn er sagt, dass die Produzenten bestimmter Musikstile in Gebiete fliehen oder solche besetzen, aus denen sich die dominanten politischen, kulturellen und sogar musikalischen Narrative zurückgezogen haben. Diese sollen nach Monroe verschwiegen werden oder zum Schweigen gebracht werden. Doch: »Die Analyse dieser ›bösen Sektoren‹ kann versteckte Narrative und Fehlerdiagnosen offenlegen, eine schmerzvolle aber unausweichliche ›inoffizielle Version‹.« 19 So kann die Apokalypse auch als nicht offizielle Version der Utopie gedeutet werden, die musikalisch durchaus ›weh tun‹ kann und auch soll. Das Sonische ist jedoch nur in Verbindung mit den HörerInnen zu verstehen, welche durch ein soziales und gesellschaftliches Umfeld geprägt werden. Selbst in der Betrachtung von zwei sich nahe stehenden Stilen wie Gabber und Breakcore werden apokalyptische oder utopische Momente durch sehr unterschiedliche Strategien erreicht, sowohl sozial als auch musikalisch. Gabber oder Breakcore sind als Antigenres zu verstehen. Das apokalyptische Motiv bildet ein Gegengewicht, indem es dem dominanten, kommerzialisierten und etablierten Ursprungsgenre – in diesem Fall Techno – ›weh tut‹; es selbstreferentiell konterkariert und kommentiert und so das dystopische Potenzial der vermeintlichen Utopie offen legt. Der Kulturwissenschaftler Erik Davis verortet religiöse Tendenzen in der Technik selber und in den Trümmern des Pop. Das ›Technomystische‹ ist für ihn untrennbar mit dem Soziopolitischen und den Bedingungen des globalen Kapitalismus verwoben. Indem er das Religiöse und Mystische in der gegenwärtigen Technologiekultur auf den Tisch bringt, will er, ähnlich wie Monroe mit harter Musik, das Augenmerk auf vergessene oder bewusst ausgeblendete Problematiken richten, welche den technologischen Fortschritt begleiten und anheizen: »Historiker und Soziologen informieren uns darüber, dass das mystische Erbe des Westens von okkulten Träumen, spirituellen Transformationen und apokalyptischen Visionen an den Ufern der modernen Wissenschaft verunglückt ist […]. Aber die alten Phantasmen und metaphysischen Sehnsüchte sind nicht wirklich verschwunden. In vielen Fällen haben sie sich maskiert oder getarnt und glitten in den Untergrund, wo sie sich einen Weg in die kulturellen, psychologischen und mythologischen Beweggründe bohrten.« 20 Die AkteurInnen von apokalyptischen Subkulturen und Musikgenres entwickeln demnach Praxen und Strategien, welche die Bereitschaft und Fähigkeit stärken sollen, der Absonderlichkeiten unserer Zeit zu begegnen.
Ausgewählte Tracks
Alec Empire: »The Peak« (1998: »The Destroyer« LP, Digital Hardcore Recordings, DHR LP 16)
Atari Teenage Riot: »Destroy 2000 Years of Culture« (1997, »Destroy 2000 Years of Culture« EP, DHR, DHR 15)
Cardopusher: »Low End Legacy« (2009, »Unity Means Power« LP, Ad Noiseam, ADN 109)
Cardopusher: »Bad Face« (2009, »Off Road Recordings« 12”, OFF 004)
Duran Duran Duran (2008): »Style Wars« (2008, 12”, Audio Damage, AD 004)
Disciples of Annihilation: »NYC Speedcore« (1997, »New York City Speedcore« CD, Earache, MOSH 164)
Ilsa Gold: »Silke – The Remixes« (1993, 12”, Force Music Works Inc, FIM 047)
Search & Destroy: »The Mystery« (1994, »Music For HappE Party’s« CD, Mokum Records)
The Speed Freak: »Jesus was a Mutant« (2003, Psychik Genocide, 12“, PKG 14).
Venetian Snares: »Ultraviolent Jungelist« (2010, »My So-Called Life« LP, Timesig, 001 LP)
Notes:
- 1 Vgl. Scharenberg, Albert / Bader, Ingo (Hg.): »Der Sound der Stadt. Musikindustrie und Subkultur in Berlin« Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2005. Gabba Front Berlin: »Lacrima Mosa Est« (2003, 12”, Doomsday Records, D-Day 02) ↩
- 2 Vgl. Reynolds, Simon: »Generation Ecstasy. Into the World of Techno and Rave Culture« New York: Routledge 1999. ↩
- Vgl. Goodman, Steve (2010): »Sonic Warfare. Sound, Affect and the Ecology of Fear« Cambridge/London: MIT Press 2010, S. 140. ↩
- 4 Vgl. Reynolds, Simon: »Retromania – Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann«. Aus dem Englischen von Chris Wilpert. Mainz: Ventil-Verlag 2012. Mescalinum United: »We have Arrived« (1990, 12”, Planet Core Productions, PCP 006) ↩
- 5 Reynolds (1999), S. 9. ↩
- 6 Vgl. Eshun, Kodwo: »Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction« Berlin: ID Verlag 1999. Rotterdam Termination Source: »Poing« (1992, 12”, Rotterdam Records, ROT 004) ↩
- 7 Reynolds (1999), S. 10. ↩
- 8 Vgl. Gilroy, Paul: »The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness« London/New York: Verso 2002. ↩
- 9 Vgl. Monroe, Alexei: »The Evolution of Senso-Brutalism. Electronic Aesthetics of Force in Music. Industrial – Minimal Techno – Gabba« 2006, online unter: www.skug.at/article3623.htm, letzter Zugriff 12.12.2012. ↩
- 10 Fringeli, Christoph: »Hedonism and Revolution. The Barricade and the Dancefloor« 2011, in: Datacide #11 – Magazine for Noise and Politics. Berlin, S. 6–7. ↩
- 11 Redaktion De:Bug (2011). »Retromania. Die Ära des Archivs.« 2011, in: De:Bug 09. 2011, #155, S. 10–11. (= Redaktioneller Einleitungstext zum Heftthema: »Retromania. Pop aus dem Archiv«). ↩
- 12 Stockburger, Axel: »Utopia Inside. Tracing Aspects of the Utopian in Contemporary Sonic Culture«,in: Diederichsen, Diedrich / Ruhm, Constanze (Hg.): »Utopia of Sound« Wien: Publications of the Academy of Fine Arts 2010, S. 181. ↩
- 13 Vgl. Poschardt, Ulf: »DJ Culture. Diskjockeys und Popkultur« Hamburg: Rowohlt Verlag 2001. ↩
- 14 Monroe, Alexei: »Thinking about mutation. Genres in 1990s electronica«, in: Blake, Andrew (Hg.) »Living Through Pop« London/New York: Routledge, 1999, S. 146–158. ↩
- 15 Vgl. Monroe (2006). ↩
- 16 Vgl. Goodman, S. 158. ↩
- 17 Vgl. Goodman, S. 116. ↩
- 18 Saage, Richard (2010): »Zur Differenz und Konvergenz von Utopie und Apokalypse«, in: Sorg, Reto / Würffel, Bodo: »Utopie und Apokalypse in der Moderne« München: Wilhelm Fink Verlag 2010, S. 17–32. ↩
- 19 Vgl. Monroe (2006). ↩
- 20 Davis, Erik: »Techgnosis. Myth, Magic + Mysticism in the Age of Information« New York: Random House 1998, S. 3. ↩