„Wir alle haben viel Druck im Alltag. Den können wir im Club abbauen“ – BIANCA LUDEWIG im mica-Interview
BIANCA LUDEWIG forscht als Kulturanthropologin seit Jahren zu Clubkultur. Sie spricht mit Stefan Niederwieser über Utopien, über eine gemeinschaftliche Liebe zur Musik, über Geschichten, die fehlen und Schwerstarbeit bei female:pressure.
Lässt sich Clubkultur am besten als Gegenkultur beschreiben, als Subkultur, als Milieu, als Szene?
Bianca Ludewig: Viele sprechen noch immer von Gegen- und Subkulturen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das nicht mehr haltbar. Unsere Gegenwart unterscheidet sich gravierend zu den 1960er, 70er oder 80er Jahren. Viele Wissenschafterinnen und Wissenschafter haben deshalb den Begriff der “Szene” eingeführt. Dieser funktioniert alleine nur schwer. Man benötigt andere Begriffe oder Aspekte wie etwa Genres für Musikszenen. Aber der Begriff funktioniert, weil diese Lebensstil-Gemeinschaften charakteristisch für unsere Gegenwart sind, in die wir einfach hineinkommen und schnell wieder hinaus. Wir sind oft Teil von mehreren Szenen bzw. Lebensstil-Gemeinschaften. Sie bieten meist auch ökonomische Gelegenheiten und treiben ihre eigene Gentrifizierung voran, während Subkulturen eher versucht haben, kritisch gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu agieren und Alternativen selbst zu gestalten.
Also doch “Szene”?
Bianca Ludewig: Jein. Der Szene-Begriff ist eben unpräzise. Im Fall von Musik spreche ich deshalb von “Audiosozialen Gemeinschaften”. Damit ist klar, dass es um Musik geht, dass Musik im Vordergrund steht, dass Musik der Grund ist, warum diese Menschen zusammenkommen. Die Idee kommt von Steve Goodman bzw. Kode9. Als Labelbetreiber und Musikproduzent hat er den Begriff „audio-social“ aber nicht weiter ausgearbeitet. John Cage hat früher schon den Begriff “Scenius” geprägt, ein Kofferwort aus Szene und Genie. Es beschreibt, dass keine große Idee in der Musikgeschichte von einer Persona allein stammt, sondern daran immer viele Menschen beteiligt sind. Aber eben nicht nur Menschen. Und jetzt kommt wieder Goodman ins Spiel. Sondern eben auch Orte und Technologien sind ganz wichtig für all das, was wir heute wertschätzen. Das versucht der Begriff der “Audiosozialen Gemeinschaften” mit zu inkludieren. Er vergemeinschaftet uns wieder in der Liebe zur Musik.
„Ich glaube, dass der Club als utopischer Ort eine Berechtigung hat.“
Ist der Club als utopischer Ort ein Mythos?
Bianca Ludewig: Ich glaube, dass der Club als utopischer Ort eine Berechtigung hat. Und dass er diese Möglichkeiten auch in Ansätzen bietet. Mir waren nur viele Akteurinnen und Akteure in den letzten Jahren zu wenig politisiert, viel zu blauäugig und naiv. Wenn wir Freetek oder die Kriminalisierung in England einbeziehen, dann sind das auf jeden Fall utopische Orte und vielleicht sogar gefährliche Orte gewesen. Es gibt schon einen Katalog von Forderungen, die implizit über Jahrzehnte von Clubkultur aufgestellt wurden. Aber sie wurden niemals verschriftlicht oder zur Agenda. Und dementsprechend wurden auch immer nur die Teile, die gerade von Vorteil sind, umgesetzt und alle anderen nicht.
Zum Beispiel?
Bianca Ludewig: Letztlich sind das oft ökonomische Fragen. In Berlin sind die Einkommen vieler Menschen im Kreativbereich sehr gering. Und es ist sehr teuer, in den Club zu gehen, der Eintritt, die Getränke oder andere Dinge, um lange wach oder bei Kräften sein zu können. Und vielfach fehlt das Verständnis, wie wichtig Räume sind. Im fortschreitenden Spätkapitalismus funktioniert es zu gut, dass Kreative diese Räume in Wert setzen und dann gehen müssen, sobald sie an Wert gewonnen haben. Dabei sind diese Musikräume wahnsinnig wichtig – nicht nur um zu feiern. Sie sind wichtig für soziale Gemeinschaft im Urbanen, und für künstlerische Innovation und Entwicklung. Und die Orte und ihre Musik ist wichtig für eine affektive, immersive, emotionale und körperliche Weis der Alltagsbewältigung und Schmerzausschaltung. Wir alle haben viel Druck im Alltag. Den können wir dort abbauen. Dass das wichtig ist, zeigen auch die steigenden Zahlen und aktuelle Debatte um häusliche Gewalt.
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