Text Bianca Ludewig | Foto JR | Layout Georgee
Seit seinen „28 Millimetres“-Projekten – Portrait Of A Generation mit Jugendlichen aus den Banlieues und der Face2Face Serie mit Israelis und Palästinensern – ist der Bekanntheitsgrad des Ex-Graffiti-Writers aus Frankreich drastisch angestiegen. Zurecht, denn im Gegensatz zu anderen Fotografen oder Streetartists verweigert er sich dem normalen Ausstellungsrahmen und hält es streetwise. JR zeigt uns vor allem, dass die besten Ideen simpel sind und auf der Straße liegen. Von da holt er sie, und dahin bringt er sie zurück. Wie, ist eigentlich egal, Hauptsache, es wird gemacht. Früher war sein Mittel die Sprühdose, momentan sind es Kamera und Kleister.
„Ich möchte zwar verstanden werden, aber deshalb schreibe ich noch lange keine Erklärung daneben. Ich überlasse es der Interpretation der Passanten. Gerade deshalb finde ich es wichtig, dass die illegale Kunst einen Inhalt hat.“
JR will Stereotypen aufbrechen. Konservative Pariser sollen über die vermeintlichen Terroristen aus den Banlieues lachen, Israelis und Palästinenser über Unterschiede hinweg schmunzeln. Gelingt ihm das? In Berlin-Kreuzberg kann man noch seine Gemeinschaftsarbeit mit BLU sehen, die im Rahmen der Work-In-Progress-Ausstellung „Planet Prozess“ entstanden ist. JR plakatierte zweimal ein Augenpaar von acht Metern Länge an die Brandwand gegenüber dem Senatsreservenspeicher, BLU umrahmte sie mit seinen skimaskentragenden Figuren. Das Augenpaar gehörte einem jungen Muslim aus den Pariser Banlieues. JR durfte das Foto mangels Erlaubnis der Eltern nicht verwenden, aber er behielt die Augen. Eines seiner besten Fotos, wie er seufzend gesteht: „Ich spiele gerne mit den Gesichtern der Menschen, besonders die Augen faszinieren mich. Deshalb gehe ich auch so nah ran bei meinen Porträtaufnahmen, damit die Augen zur Geltung kommen. Sie sind der Spiegel unserer Seele, man kann darin eine Menge lesen, wenn man aufmerksam ist.“
JR wirkt ideologisch gefestigt und sieht politischen Veränderungen in Bezug auf illegale Kunst gelassen, wenn auch nicht wohlwollend entgegen. Für seine Fotos sind ihm weder Galerien noch Magazine wichtig, mit den Städteverwaltungen spricht er ohnehin nicht. Er sieht sich auch nicht als Vollblutfotograf, sondern griff lediglich Ideen mithilfe der Kamera auf. Wenn ihn keine Galerie mehr einlädt, keiner mehr seine Fotos kauft, muss er eben andere Ideen mithilfe anderer Mittel verwirklichen. Er verabscheut auch den persönlichen Kult um Künstler. Die Fotografie und den Kunstbetrieb im Allgemeinen findet er elitär, die Arbeit auf der Straße zählt. Dort kann jeder Ausstellungen sehen, kann jeder ausstellen, und man bleibt anonym. „Was soll eine Galerie für mich tun können, was die Straße nicht kann? Einzig die Möglichkeit, Geld zu verdienen, bietet einen Vorteil, denn man braucht Geld, um seine Projekte am Leben zu erhalten. Das bekomme ich lieber durch den Verkauf meiner Fotos als durch Sponsoring. Deshalb muss ich manchmal Kontakt mit der Kunstwelt aufnehmen, sonst meide ich sie und arbeite auf der Straße. Wenn ich an Ausstellungen teilnehme, dann nur, wenn ich auch draußen arbeiten kann.“
JR besitzt erst seit kurzer Zeit eine professionelle Fotoausrüstung, die ersten Jahre fotografierte er mit einer Kamera, die er in der Metro fand. Er fühlte sich im Graffiti nie talentiert genug, aber liebte die Aktion, die Orte, die Atmosphäre. Deshalb entschied er sich zunächst, Writer in Aktion zu fotografieren. Seine Fotos machte er zu Plakaten und kleisterte sie in die Straßen zurück. Damit fühlte er sich besser, richtiger und verstandener.
Die Wände hat JR aufgrund seiner Vergangenheit stets detailverliebt ausgewählt. Inzwischen sind seine Plakate zu groß geworden, aber anfangs malte er mit der Dose noch Rahmungen für die Poster oder Hinweise auf seine Open-Air-Gallerys. Diese Zeit dokumentiert sein erstes Buch „Carnet De Rue Par JR“. In seinem Streetjournal finden sich Snapshots von Writern und Urban Aktivists aus der ganzen Welt, es ist ein Hommage an seine Roots. Für ihn ist es selbstverständlich, dass Writer und urbane Aktivisten in einem Buch zusammen Platz finden. Dennoch versteht er die Bedenken vieler Writer gegenüber Streetart: „Die Streetart-Bewegung ist in den letzten fünf Jahren sehr angesagt und trendy geworden, dadurch wurden auch immer viele Fake-Artists populär. Leute, die das nur mal eben so machen, die eben nicht Nacht für Nacht über lange Zeit auf der Straße aktiv sind. Aber das sollte die anderen auch motivieren, wieder origineller zu werden und Standards anzuheben. Man sollte die Augen auf die guten Künstler richten, statt mit den schlechten seine Zeit zu verschwenden. Parasiten wird es immer geben“.
JR erforschte seinen weiteren Umkreis mit der Kamera: Er fotografierte jetzt in den Banlieues, der Musikszene und beim Film. Dabei entdeckte er Porträts als neuen Fetisch. Ein Jahr später begannen die Riots in Paris. JR war wütend über die Ghettoklischees, die durch Presse und Medien inszeniert wurden: „Deshalb ging ich wieder zurück in die Banlieue, wo man mich schon kannte. Ich erzählte ihnen, wie sie in der Presse dargestellt wurden, und sagte, dass jeder, der mit seinem Klischee spielen will, mitmachen soll. Die Bilder habe ich dann im Osten von Paris plakatiert, wo die meisten vermutlich noch niemanden aus den Banlieues gesehen haben. Aber auch in den Banlieues selber habe ich sie gepastet, um so auch etwas zurückzugeben“.
Danach ist JR erst richtig auf den Geschmack gekommen und setzte sich kein geringeres nächstes Ziel als die Mauer zwischen Israel und Palästina. Hier fand der zweite Teil seines 28-Millimetres-Projekts statt. Die Beweggründe waren ähnliche wie in den Banlieues: Die Angst auf beiden Seiten sollte bekämpft werden. Auf beiden Seiten der Mauer wurde man gebeten – mit 28 Millimeter Abstand – zu weinen, zu schreien oder zu lachen und vor allem Grimassen zu schneiden. Um die gegenseitigen Klischees und Stereotypen ins Wanken zu bringen. Die 80 Poster wurden auf beiden Seiten und in einigen Städten entlang der Mauer plakatiert. In ausgefeilten Kombinationen und ohne eine Genehmigung. „Face2Face“ und „Portrait Of A Generation“ sind jeweils als Fotoband erschienen und dokumentieren zwei kleine Wunder. Unwahrscheinliche Wirklichkeiten, die aber jeder von uns erschaffen kann. Die Wunder passieren so selten, weil kaum noch jemand die nötige Aufmerksamkeit mitbringt, um die Straßen, die Menschen oder die Medien richtig zu lesen und zu verstehen, glaubt JR.
Vielleicht sind seine Poster deshalb immer größer geworden, anders ist der abgestumpften Masse nicht mehr beizukommen: „Ich möchte zwar verstanden werden, aber deshalb schreibe ich noch lange keine Erklärung daneben. Ich überlasse es der Interpretation der Passanten. Gerade deshalb finde ich es wichtig, dass die illegale Kunst einen Inhalt hat. Damit Menschen begreifen können, dass da auch Bewusstsein und Absicht dahintersteckt. Wir müssen lernen, in zwei Stufen zu lesen und zu verstehen. Der erste, oberflächliche Blick stellt selten die Wirklichkeit dar. Was die meisten sehen, ist nur ihre eigene Meinung, aber das ist nicht die Realität. Meine Arbeit soll ein Beitrag zu besserem Leseverständnis sein. Wer ist dieser Junge aus dem Banlieue? Wer ist dieser Rabbiner? Wer ist diese Palästinenserin?“, will JR wissen.
Ironie und Provokation sind für JR geeignete Mittel, um Klischees aufzubrechen. In illegalen Bildern und Symbolen sieht er geeignete Codes für die heutige, durch Werbung verseuchte Zeit: „Die größte Freiheit erlebt man, wenn man illegal arbeitet. Es ist auch eine Herausforderung – ich bin kein Held, weil ich es geschafft habe, Poster an die Mauer zwischen Israel und Palästina zu plakatieren. Die Menschen haben es mich tun lassen, sie hätten das Projekt auch verhindern können“, weiß JR.
Wer illegal arbeitet, bekommt auch Probleme, doch das gehört für JR dazu. Darin liegt für ihn auch die größte Verunsicherung von Graffiti und Streetart. Die meisten haben diesen neuen Code einfach noch nicht verstanden, dass er selbst eine eigene Kunstform ist: „Es gab schon immer Kunst auf der Straße, aber diese neue Art, es einfach zu tun, ohne zu fragen, schockt immer noch viele. Dass diese neuen Aktivisten so viel Risiko und Verantwortung auf sich nehmen, nur um jedes Rooftop, jeden Zug der Stadt zu bemalen, das können viele immer noch nicht verstehen. Diese Unabhängigkeit ist etwas sehr Starkes“.
Seine Philosophie aus Freiheit und Verantwortung hat den Selfmade-Fotografen auch dazu bewogen, sich an dem schwierigen Thema Auschwitz zu versuchen. JR ist sicher kein naiver Hippie, und er rechnet nicht damit, dass seine Projekte die Welt verändern, aber versuchen will er es dennoch. Im Kopf ist JR schon beim dritten Teil seiner 28-Millimetres-Serie, die er in Brasilien fotografieren und plakatieren wird. Auch dort wird sie gebraucht, die Aufmerksamkeit für das Detail.